Articles | Volume 90, issue 2
https://doi.org/10.5194/polf-90-45-2022
https://doi.org/10.5194/polf-90-45-2022
Report for the polar community
 | 
11 Nov 2022
Report for the polar community |  | 11 Nov 2022

Politikwissenschaftliche Polarforschung

Mathias Albert, Hannes Hansen-Magnusson, and Christoph Humrich
Kurzfassung

Vor dem Hintergrund des nunmehr auch im deutschsprachigen Raum gestiegenen politikwissenschaftlichen Interesses an Polarforschung identifiziert dieser Beitrag aus drei Perspektiven Forschungsstränge, von denen Impulse für einen intensivierten Austausch zwischen politik- und naturwissenschaftlicher Polarforschung ausgehen könnten: die Makroperspektive nimmt Dynamiken und Regulierung des Erdsystems in den Blick; die Mesoperspektive die Organisation von Beziehungen zwischen Wissenschaft und Politik in institutionellen Designs und Prozessen; die Mikroperspektive schließlich das Zusammenspiel verschiedener Akteure bei der Politikgestaltung und -implementation.

Abstract

Against the backdrop of an increased interest in polar research within German political science this contribution takes three perspectives to identify some thematic strands that appear promising for an intensified exchange between political science and the natural sciences in polar research: a macro-perspective focuses on dynamics and regulation in the Earth-System; a meso-perspective on the relations between science and policy in institutional designs and processes; a micro-perspective on the interaction of different actors in policy-shaping and -implementation.

Dates
1 Politikwissenschaftliche Polarforschung international und in Deutschland

Politikwissenschaftliche Arbeiten sind schon seit Längerem Bestandteil der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit den menschlichen Beziehungen zu und in den Polargebieten. Mindestens vier Arten solcher Untersuchungen lassen sich unterscheiden. Die akademische Grundlagenforschung zielt auf generalisierende Theoriebildung zu politikwissenschaftlichen Fragen, die vor allem, aber nicht zwingend nur Politik der Polargebiete betreffen. Solche Theorien bzw. Generalisierungen leiten die praxisorientierte Forschung, in der die Polargebiete als Anwendungsfall betrachtet werden. Von diesen beiden Arten sind zwei Arten politiknaher Untersuchungen in Think Tanks und politischen Consultancies zu unterscheiden, die im engen Dialog mit Stakeholdern und Policy-makern einerseits strategische Analysen und Visionen erarbeiten, andererseits operatives Wissen und Implementationshilfen für Politiken anbieten. Uns geht es hier in erster Linie um die ersten beiden Arten, die in einem engeren Sinne akademische politikwissenschaftliche Polarforschung. Wenngleich in kleiner Zahl sind Beiträge dieser Forschung inzwischen bei den größeren internationalen und multidisziplinären Polartagungen (etwa der SCAR Open Science Conference oder der Arctic Science Summit Week) vertreten, und selbst jenseits stark sozialwissenschaftlich ausgerichteter Fachzeitschriften (etwa The Polar Journal) auch in disziplinübergreifenden Periodika (siehe etwa Polar Record) zu finden. Außerhalb des engeren wissenschaftlichen Kontextes, z.B. in Foren wie der jährlichen Arctic Circle Assembly in Reykjavik, stellen allerdings politiknahe Untersuchungen den weit größeren Anteil. Organisatorisch findet sich politikwissenschaftliche Forschung unter anderem in der seit 1990 bestehenden International Arctic Social Science Association. Das International Arctic Science Committee unterhält seit 2010 eine Social & Human Sciences Working Group. Ebenfalls seit dem Zeitpunkt sind die Sozialwissenschaften auch innerhalb des Scientific Committee on Antarctic Research institutionell repräsentiert. Im Herbst 2019 wurde in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) eine Themengruppe „Polar- und Meerespolitik“ gegründet. Mit dieser Gründung wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das Interesse an entsprechenden Themen auch in der deutschen Politikwissenschaft in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Hinsichtlich der Einbettung politikwissenschaftlicher Polarforschung in die multidisziplinäre Polarforschungs-„Community“ lässt die Situation in Deutschland aber durchaus noch zu wünschen übrig. So taucht die Politikwissenschaft zum Beispiel in der Polarforschungsagenda 2030 der DFG nur einmal bei der Frage der Repräsentanz indigener Völker auf. In den Forschungsprogrammen des Bundes, vor allem Mare:N, werden zwar Fragen politikwissenschaftlicher Grundlagenforschung thematisiert (am deutlichsten und differenziertesten im Konzeptpapier „Blauer Ozean“), sie sind aber programmgemäß stark auf Aspekte der Governance für Nachhaltigkeit beschränkt und wenig am Stand der Wissenschaft orientiert. Ohnehin käme es in erster Linie darauf an, politikwissenschaftliche Forschung auch in den Ausschreibungen für Forschungsgelder so zu berücksichtigen, dass sie jenseits der Frage nach Umsetzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in Politiken auch die grundlegenderen Fragen der Politik in und für die Polargebiete behandeln kann. Ein Blick in mehrere Jahrgänge der Polarforschung bzw. in die Programme der von der Deutschen Gesellschaft für Polarforschung regelmäßig veranstalteten internationalen Polartagungen zeigt, dass politikwissenschaftliche Grundlagenforschung in diesen Kontexten noch nicht in Erscheinung tritt. Dabei hat die geringe Repräsentation politikwissenschaftlicher Forschung weniger mit einem exklusiven Charakter der deutschen Polarforschungsgemeinde zu tun, sondern damit, dass es bis auf einzelne Ausnahmen keine nennenswerte Anzahl von Personen in der Politikwissenschaft gab, die hier hätten repräsentieren können! Nicht bestreitbar ist auch, dass trotz des gestiegenen Interesses weiterhin die große Mehrheit der politikwissenschaftlich Forschenden, vor allem jenseits von internationaler Politik und Klimapolitik, wenig von den Polargebieten weiß. Die neu gegründete Themengruppe versucht zu mobilisieren und die Relevanz der Polargebiete und von Polarpolitik in und für die Politikwissenschaft herauszustellen.

Der vorliegende Beitrag versteht sich als Anregung, die sich so entwickelnde politikwissenschaftliche Polarforschung stärker in den Dialog mit den anderen Disziplinen der deutschen Polarforschungs-„Community“ zu bringen. An ausgewählten Themensträngen politikwissenschaftlicher Polarforschung möchte er aufzeigen, an welchen Stellen sich Dialogpotential mit naturwissenschaftlichen Disziplinen der Polarforschung ergibt. Ein solcher Dialog stellt keinen Selbstzweck dar, sondern muss sich daran messen lassen, welche Impulse von ihm für die Forschung beiderseitig ausgehen. Für die Seite de Politikwissenschaft wäre zu hoffen, dass solche Impulse auch Rückenwind für die weitere Mobilisierung von Personen und Interesse in der eigenen Disziplin erzeugen.

2 Themenstränge in Makro-, Meso- und Mikroperspektiven auf Polargebiete und Polarpolitik

Einer klassischen Definition zufolge dreht sich Politik, und damit Politikwissenschaft, im Kern um die Frage, wer was, wann und wie bekommt. Daher fokussierten sich politiknahe Untersuchungen im „neuen“, weil zeitweise eisfreien, arktischen Ozean auch oft auf Politiken bezüglich territorialer Besitzansprüche, Zugang zu Ressourcen wie Öl oder Fisch, sowie der Kontrolle von Seewegen. Die Nachfrage nach solchen traditionellen geopolitischen Analysen ist spätestens seit 2007 gestiegen. Seitdem wurden zum Beispiel russische Aktivitäten in der Arktis vor allem im Lichte des konfrontativen und aggressiveren Kurses gesehen, den Putin auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar des Jahres skizziert hatte und der sich in den folgenden Jahren im Georgienkrieg und der Krimannexion ausdrückte. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine Auswirkungen auf die Arktisforschung und -politik haben diesen Trend noch einmal verstärkt.

Aber das Abschmelzen des Eises forciert auch andere Fragen, die sich mit der klassischen Definition von Politik nicht erschöpfend behandeln lassen. Dazu zählen die existenziellen Probleme für lokale und indigene Bevölkerungen der Arktis, deren wirtschaftliche Lebensgrundlage und kulturelle Identität eng mit der (gefrorenen) Natur verbunden sind, aber auch die Existenzbedrohung von Küsten- und Inselbewohnern weltweit, wenn der Meeresspiegel durch das Schmelzen des grönländischen und antarktischen Inlandeises steigt, und schließlich Risiken und Gefährdungen im Leben von Milliarden von Menschen, insofern geo-physische Entwicklungen an den Polen negative Klimaeffekte in anderen Weltregionen erzeugen. Die Diskussion um das Anthropozän hat daher auch in der Politikwissenschaft Spuren hinterlassen. Der Begriff hilft, die planetare Dimension und die komplexen Verbindungen zwischen natürlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die nicht länger nur auf abgegrenzte Orte oder Regionen beschränkt sind, zu fassen. Ein komplementärer Begriff ist „Earth-System Governance“. Er transportiert die Notwendigkeit einer Regulierung im globalen Maßstab. Wenn man die Prämisse des Anthropozäns ernst nimmt und die strikte Trennung von mensch- und naturbezogenen Fragen aufgibt, drängt sich ausgehend von der Notwendigkeit des regulierenden menschlichen Eingriffs ein Dialog zwischen Politik- und naturwissenschaftlicher Polarforschung mit einer Makroperspektive auf (Erd-)Systemdynamiken und -regulierung auf. Er könnte Impulse für interdisziplinäre Grundlagenforschung über die Ko-Evolution der natürlichen und gesellschaftlichen Systeme erzeugen. Aus politikwissenschaftlicher Sicht stellen sich Fragen der Passung, des Zusammenspiels und der Reichweite von Regulierungsversuchen sowohl in Bezug auf gesellschaftliche als auch in Bezug auf natürliche Systeme. Das gilt vor allem in den Polargebieten, die zunehmend in den Sog einer Globalisierung geraten und deren dramatischste Veränderungen größtenteils andernorts verursacht werden. Die regionalen Governance-Institutionen sind darauf jedoch nicht ausgelegt. Eine strikte Beurteilung der Effektivität von Institutionen der Earth-System-Governance lässt sich zudem nur vornehmen, wenn Veränderungen natürlicher Systeme erfasst und der Einfluss von menschlichen Regulierungsversuchen auf natürliche Systeme von natürlichen Veränderungsprozessen unterschieden werden können. Dazu sind Politikwissenschaftler auf naturwissenschaftlichen Beistand angewiesen.

Wissenschaft spielt in den Institutionen der Polarpolitik eine herausragende Rolle. Die naive Konzeption der Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik lässt erstere die Erkenntnisse über naturräumliche Zusammenhänge gewinnen und betraut letztere mit der Überführung dieses Wissens in konkrete Handlungsstrategien (policies). Aber ein solcher Informationstransfer mündet schon deshalb selten in der bloßen Annahme und Umsetzung vorgeschlagener Empfehlungen, weil die Informationen in einer Kakophonie unterschiedlicher Interessen und Wissensbestände untergehen. Auf der Suche nach einer angemesseneren Konzeption hat sich die Politikwissenschaft der Organisation von sogenannten Policy-Science Interfaces, Konstellationen von Wissen/Nichtwissen und Macht/Ohnmacht im Interessenausgleich politischer Entscheidungsfindung, und unter dem Schlagwort „science diplomacy“ der Rolle von Wissenschaft in der Verhandlungsdiplomatie zugewandt. Von einem Dialog in dieser Mesoperspektive auf institutionelle Designs und Prozesse der Interaktion von Wissenschaft und Politik könnten für Politik- und Naturwissenschaften unterschiedliche Impulse ausgehen. Die entsprechende politikwissenschaftliche Forschung benötigt die Erfahrungen von Naturwissenschaftlern in Governance-Prozessen als empirisches Material. Umgekehrt könnten politikwissenschaftliche Erkenntnisse über die Funktionsweisen von „policy-science-interfaces“ und „science diplomacy“ oder die Rolle von Wissenschaft in Verhandlungen Hilfestellungen für die effektive Organisation (natur-)wissenschaftlicher Beteiligung an Governance-Prozessen bzw. Wissenschaftspolitik bereithalten. Der vom deutschen Arktisbüro des AWI organisierte Arktisdialog wäre hier zum Beispiel sowohl mögliches Untersuchungs- als auch Anwendungsobjekt.

Sowohl Politik- als auch Naturwissenschaftler wirken in der Gestaltung und Umsetzung von Polarpolitik als „stakeholder“ mit. Die Mikroperspektive nimmt sie als beteiligte Akteure in den Blick, die sich nicht nur untereinander, sondern auch mit anderen Akteuren in Dialog begeben und auseinandersetzen. Politikwissenschaftler interessieren sich für die Vorrausetzungen und Konsequenzen solcher Dialoge (sind aber gleichwohl nicht für die Organisation von Stakeholder-Foren zuständig): Welche Akteure werden unter welchen Prämissen zugelassen? Hier interessiert z.B. der Status staatlicher (und nicht-staatlicher) Akteure im Antarktisvertragssystem. Aber auch die nicht nur völkerrechtlich interessante Beteiligung indigener Gruppen in arktischer Governance und mit ihr der umfangreiche Dialog zwischen indigenem Wissen und akademischer Forschung. Das lenkt die Aufmerksamkeit auch auf die Frage nach unterschiedlichen Vorstellungen von Natur und ihrem Bezug zur Gesellschaft, die politischen Positionen aber auch wissenschaftlicher Forschung zugrunde liegen. Wenn Natur nur als Fundus von Ressourcen erscheint, ergeben sich andere Aufgaben und Ansatzpunkte für Wissenschaft im Dialog, als wenn Natur existenzieller Charakter und unmittelbare Einbindung in gesellschaftliche Ordnungen unterstellt wird. Politik- und Naturwissenschaftler beeinflussen diese Vorstellungen mit ihrer Arbeit kontinuierlich und sollten sich über ihre unterliegenden Konzeptionen im Lichte anderer Wissensbestände gemeinsam Rechenschaft ablegen. Ein Dialog zwischen Politik- und Naturwissenschaft in der Polarforschung könnte insbesondere dann interessante Impulse liefern, wenn es gelingt, gemeinsam Eigenschaften der Polargebiete zu benennen, welche die üblichen Vorstellungen von Natur und Gesellschaft in den gemäßigteren Breiten herausfordern. Schließlich stellt sich die Frage, wie Politik- und Naturwissenschaftler zusammen kreative Lösungen zur Umsetzung von Regulierung befördern können. Wo wie in der Antarktis staatliche Institutionen fehlen, die beispielsweise das Einhalten von Fischfangquoten überwachen oder gegen illegale Fischerei vorgehen könnten, müssen andere Akteure identifiziert werden, die wie z.B. Nichtregierungsorganisationen bei Implementation und Monitoring helfen können. Für deren Erfolg sind nicht nur die politische Stellung und Strategie der Akteure relevant, sondern auch konkrete Instrumente wie etwa mit GPS-Sendern ausgestattete Seevögel, welche beim Auffinden illegaler Fangaktivitäten helfen können.

3 Fazit

Die Polargebiete stehen in vielerlei Hinsicht sinnbildlich für das Anthropozän. In ihm sind die Dynamiken und die Regulierung des Erdsystems genuin politische Themen. Effektive „Earth-System-Governance“ wird aber nicht allein durch mehr oder gar besseres Wissen vorangebracht. Wer an der Produktion des Wissens beteiligt ist, ist ebenso ein politisches Thema wie die Frage, wo, wie und zu welchem Zweck das neue Wissen in Handlungen umgesetzt werden sollte. Umgekehrt werden die Herausforderungen des Anthropozäns nicht ohne eine dramatische Verbesserung unseres wissenschaftlichen Verständnisses des Erdsystems angegangen werden können. Nicht nur, aber insbesondere auch in der Polarforschung ist daher ein intensivierter Dialog zwischen Politikwissenschaft und naturwissenschaftlichen Disziplinen erforderlich. Ausgehend von den drei Perspektiven sollten die in diesem Beitrag ausgewählten Themenstränge Möglichkeiten aufzeigen, den bisher in Deutschland vergleichsweise verhaltenen Dialog zu forcieren. Die Hürden in der gegenseitigen Vermittlung von Fragestellungen, Wissensbeständen und Forschungszugängen zwischen sozial- und naturwissenschaftlichen Disziplinen sind dabei real aber nicht unüberwindbar und bei näherem Hinsehen oftmals nicht höher als zwischen manchen „benachbarten“ Disziplinen innerhalb der Natur- oder Sozialwissenschaften.

Autorenmitwirkung

Alle Autoren haben an vorliegendem Text zu gleichen Teilen mitgewirkt.

Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Haftungsausschluss

Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten und institutionellen Zugehörigkeiten neutral.

Begutachtung

This paper was edited by Bernhard Diekmann and reviewed by Volker Rachold.

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Short summary
This short contribution provides describes the increased interest in the polar research within the German-speaking political science community and suggests an agenda for cross-disciplinary collaboration between natural and social sciences.