Vor dem Hintergrund des nunmehr auch im deutschsprachigen Raum gestiegenen politikwissenschaftlichen Interesses an Polarforschung identifiziert dieser Beitrag aus drei Perspektiven Forschungsstränge, von denen Impulse für einen intensivierten Austausch zwischen politik- und naturwissenschaftlicher Polarforschung ausgehen könnten: die Makroperspektive nimmt Dynamiken und Regulierung des Erdsystems in den Blick; die Mesoperspektive die Organisation von Beziehungen zwischen Wissenschaft und Politik in institutionellen Designs und Prozessen; die Mikroperspektive schließlich das Zusammenspiel verschiedener Akteure bei der Politikgestaltung und -implementation.
Against the backdrop of an increased interest in polar research within German political science this contribution takes three perspectives to identify some thematic strands that appear promising for an intensified exchange between political science and the natural sciences in polar research: a macro-perspective focuses on dynamics and regulation in the Earth-System; a meso-perspective on the relations between science and policy in institutional designs and processes; a micro-perspective on the interaction of different actors in policy-shaping and -implementation.
Politikwissenschaftliche Arbeiten sind schon seit Längerem Bestandteil
der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit den menschlichen
Beziehungen zu und in den Polargebieten. Mindestens vier Arten solcher
Untersuchungen lassen sich unterscheiden. Die akademische
Grundlagenforschung zielt auf generalisierende Theoriebildung zu
politikwissenschaftlichen Fragen, die vor allem, aber nicht zwingend nur
Politik der Polargebiete betreffen. Solche Theorien bzw. Generalisierungen
leiten die praxisorientierte Forschung, in der die Polargebiete als
Anwendungsfall betrachtet werden. Von diesen beiden Arten sind zwei Arten
politiknaher Untersuchungen in Think Tanks und politischen Consultancies zu
unterscheiden, die im engen Dialog mit Stakeholdern und Policy-makern
einerseits strategische Analysen und Visionen erarbeiten, andererseits
operatives Wissen und Implementationshilfen für Politiken anbieten. Uns
geht es hier in erster Linie um die ersten beiden Arten, die in einem
engeren Sinne akademische politikwissenschaftliche Polarforschung.
Wenngleich in kleiner Zahl sind Beiträge dieser Forschung inzwischen bei
den größeren internationalen und multidisziplinären
Polartagungen (etwa der SCAR Open Science Conference oder der Arctic Science
Summit Week) vertreten, und selbst jenseits stark sozialwissenschaftlich
ausgerichteter Fachzeitschriften (etwa
Der vorliegende Beitrag versteht sich als Anregung, die sich so entwickelnde politikwissenschaftliche Polarforschung stärker in den Dialog mit den anderen Disziplinen der deutschen Polarforschungs-„Community“ zu bringen. An ausgewählten Themensträngen politikwissenschaftlicher Polarforschung möchte er aufzeigen, an welchen Stellen sich Dialogpotential mit naturwissenschaftlichen Disziplinen der Polarforschung ergibt. Ein solcher Dialog stellt keinen Selbstzweck dar, sondern muss sich daran messen lassen, welche Impulse von ihm für die Forschung beiderseitig ausgehen. Für die Seite de Politikwissenschaft wäre zu hoffen, dass solche Impulse auch Rückenwind für die weitere Mobilisierung von Personen und Interesse in der eigenen Disziplin erzeugen.
Einer klassischen Definition zufolge dreht sich Politik, und damit Politikwissenschaft, im Kern um die Frage, wer was, wann und wie bekommt. Daher fokussierten sich politiknahe Untersuchungen im „neuen“, weil zeitweise eisfreien, arktischen Ozean auch oft auf Politiken bezüglich territorialer Besitzansprüche, Zugang zu Ressourcen wie Öl oder Fisch, sowie der Kontrolle von Seewegen. Die Nachfrage nach solchen traditionellen geopolitischen Analysen ist spätestens seit 2007 gestiegen. Seitdem wurden zum Beispiel russische Aktivitäten in der Arktis vor allem im Lichte des konfrontativen und aggressiveren Kurses gesehen, den Putin auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar des Jahres skizziert hatte und der sich in den folgenden Jahren im Georgienkrieg und der Krimannexion ausdrückte. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine Auswirkungen auf die Arktisforschung und -politik haben diesen Trend noch einmal verstärkt.
Aber das Abschmelzen des Eises forciert auch andere Fragen, die sich mit der klassischen Definition von Politik nicht erschöpfend behandeln lassen. Dazu zählen die existenziellen Probleme für lokale und indigene Bevölkerungen der Arktis, deren wirtschaftliche Lebensgrundlage und kulturelle Identität eng mit der (gefrorenen) Natur verbunden sind, aber auch die Existenzbedrohung von Küsten- und Inselbewohnern weltweit, wenn der Meeresspiegel durch das Schmelzen des grönländischen und antarktischen Inlandeises steigt, und schließlich Risiken und Gefährdungen im Leben von Milliarden von Menschen, insofern geo-physische Entwicklungen an den Polen negative Klimaeffekte in anderen Weltregionen erzeugen. Die Diskussion um das Anthropozän hat daher auch in der Politikwissenschaft Spuren hinterlassen. Der Begriff hilft, die planetare Dimension und die komplexen Verbindungen zwischen natürlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die nicht länger nur auf abgegrenzte Orte oder Regionen beschränkt sind, zu fassen. Ein komplementärer Begriff ist „Earth-System Governance“. Er transportiert die Notwendigkeit einer Regulierung im globalen Maßstab. Wenn man die Prämisse des Anthropozäns ernst nimmt und die strikte Trennung von mensch- und naturbezogenen Fragen aufgibt, drängt sich ausgehend von der Notwendigkeit des regulierenden menschlichen Eingriffs ein Dialog zwischen Politik- und naturwissenschaftlicher Polarforschung mit einer Makroperspektive auf (Erd-)Systemdynamiken und -regulierung auf. Er könnte Impulse für interdisziplinäre Grundlagenforschung über die Ko-Evolution der natürlichen und gesellschaftlichen Systeme erzeugen. Aus politikwissenschaftlicher Sicht stellen sich Fragen der Passung, des Zusammenspiels und der Reichweite von Regulierungsversuchen sowohl in Bezug auf gesellschaftliche als auch in Bezug auf natürliche Systeme. Das gilt vor allem in den Polargebieten, die zunehmend in den Sog einer Globalisierung geraten und deren dramatischste Veränderungen größtenteils andernorts verursacht werden. Die regionalen Governance-Institutionen sind darauf jedoch nicht ausgelegt. Eine strikte Beurteilung der Effektivität von Institutionen der Earth-System-Governance lässt sich zudem nur vornehmen, wenn Veränderungen natürlicher Systeme erfasst und der Einfluss von menschlichen Regulierungsversuchen auf natürliche Systeme von natürlichen Veränderungsprozessen unterschieden werden können. Dazu sind Politikwissenschaftler auf naturwissenschaftlichen Beistand angewiesen.
Wissenschaft spielt in den Institutionen der Polarpolitik eine herausragende Rolle. Die naive Konzeption der Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik lässt erstere die Erkenntnisse über naturräumliche Zusammenhänge gewinnen und betraut letztere mit der Überführung dieses Wissens in konkrete Handlungsstrategien (policies). Aber ein solcher Informationstransfer mündet schon deshalb selten in der bloßen Annahme und Umsetzung vorgeschlagener Empfehlungen, weil die Informationen in einer Kakophonie unterschiedlicher Interessen und Wissensbestände untergehen. Auf der Suche nach einer angemesseneren Konzeption hat sich die Politikwissenschaft der Organisation von sogenannten Policy-Science Interfaces, Konstellationen von Wissen/Nichtwissen und Macht/Ohnmacht im Interessenausgleich politischer Entscheidungsfindung, und unter dem Schlagwort „science diplomacy“ der Rolle von Wissenschaft in der Verhandlungsdiplomatie zugewandt. Von einem Dialog in dieser Mesoperspektive auf institutionelle Designs und Prozesse der Interaktion von Wissenschaft und Politik könnten für Politik- und Naturwissenschaften unterschiedliche Impulse ausgehen. Die entsprechende politikwissenschaftliche Forschung benötigt die Erfahrungen von Naturwissenschaftlern in Governance-Prozessen als empirisches Material. Umgekehrt könnten politikwissenschaftliche Erkenntnisse über die Funktionsweisen von „policy-science-interfaces“ und „science diplomacy“ oder die Rolle von Wissenschaft in Verhandlungen Hilfestellungen für die effektive Organisation (natur-)wissenschaftlicher Beteiligung an Governance-Prozessen bzw. Wissenschaftspolitik bereithalten. Der vom deutschen Arktisbüro des AWI organisierte Arktisdialog wäre hier zum Beispiel sowohl mögliches Untersuchungs- als auch Anwendungsobjekt.
Sowohl Politik- als auch Naturwissenschaftler wirken in der Gestaltung und Umsetzung von Polarpolitik als „stakeholder“ mit. Die Mikroperspektive nimmt sie als beteiligte Akteure in den Blick, die sich nicht nur untereinander, sondern auch mit anderen Akteuren in Dialog begeben und auseinandersetzen. Politikwissenschaftler interessieren sich für die Vorrausetzungen und Konsequenzen solcher Dialoge (sind aber gleichwohl nicht für die Organisation von Stakeholder-Foren zuständig): Welche Akteure werden unter welchen Prämissen zugelassen? Hier interessiert z.B. der Status staatlicher (und nicht-staatlicher) Akteure im Antarktisvertragssystem. Aber auch die nicht nur völkerrechtlich interessante Beteiligung indigener Gruppen in arktischer Governance und mit ihr der umfangreiche Dialog zwischen indigenem Wissen und akademischer Forschung. Das lenkt die Aufmerksamkeit auch auf die Frage nach unterschiedlichen Vorstellungen von Natur und ihrem Bezug zur Gesellschaft, die politischen Positionen aber auch wissenschaftlicher Forschung zugrunde liegen. Wenn Natur nur als Fundus von Ressourcen erscheint, ergeben sich andere Aufgaben und Ansatzpunkte für Wissenschaft im Dialog, als wenn Natur existenzieller Charakter und unmittelbare Einbindung in gesellschaftliche Ordnungen unterstellt wird. Politik- und Naturwissenschaftler beeinflussen diese Vorstellungen mit ihrer Arbeit kontinuierlich und sollten sich über ihre unterliegenden Konzeptionen im Lichte anderer Wissensbestände gemeinsam Rechenschaft ablegen. Ein Dialog zwischen Politik- und Naturwissenschaft in der Polarforschung könnte insbesondere dann interessante Impulse liefern, wenn es gelingt, gemeinsam Eigenschaften der Polargebiete zu benennen, welche die üblichen Vorstellungen von Natur und Gesellschaft in den gemäßigteren Breiten herausfordern. Schließlich stellt sich die Frage, wie Politik- und Naturwissenschaftler zusammen kreative Lösungen zur Umsetzung von Regulierung befördern können. Wo wie in der Antarktis staatliche Institutionen fehlen, die beispielsweise das Einhalten von Fischfangquoten überwachen oder gegen illegale Fischerei vorgehen könnten, müssen andere Akteure identifiziert werden, die wie z.B. Nichtregierungsorganisationen bei Implementation und Monitoring helfen können. Für deren Erfolg sind nicht nur die politische Stellung und Strategie der Akteure relevant, sondern auch konkrete Instrumente wie etwa mit GPS-Sendern ausgestattete Seevögel, welche beim Auffinden illegaler Fangaktivitäten helfen können.
Die Polargebiete stehen in vielerlei Hinsicht sinnbildlich für das Anthropozän. In ihm sind die Dynamiken und die Regulierung des Erdsystems genuin politische Themen. Effektive „Earth-System-Governance“ wird aber nicht allein durch mehr oder gar besseres Wissen vorangebracht. Wer an der Produktion des Wissens beteiligt ist, ist ebenso ein politisches Thema wie die Frage, wo, wie und zu welchem Zweck das neue Wissen in Handlungen umgesetzt werden sollte. Umgekehrt werden die Herausforderungen des Anthropozäns nicht ohne eine dramatische Verbesserung unseres wissenschaftlichen Verständnisses des Erdsystems angegangen werden können. Nicht nur, aber insbesondere auch in der Polarforschung ist daher ein intensivierter Dialog zwischen Politikwissenschaft und naturwissenschaftlichen Disziplinen erforderlich. Ausgehend von den drei Perspektiven sollten die in diesem Beitrag ausgewählten Themenstränge Möglichkeiten aufzeigen, den bisher in Deutschland vergleichsweise verhaltenen Dialog zu forcieren. Die Hürden in der gegenseitigen Vermittlung von Fragestellungen, Wissensbeständen und Forschungszugängen zwischen sozial- und naturwissenschaftlichen Disziplinen sind dabei real aber nicht unüberwindbar und bei näherem Hinsehen oftmals nicht höher als zwischen manchen „benachbarten“ Disziplinen innerhalb der Natur- oder Sozialwissenschaften.
Alle Autoren haben an vorliegendem Text zu gleichen Teilen mitgewirkt.
Die Autor*innen erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten und institutionellen Zugehörigkeiten neutral.
This paper was edited by Bernhard Diekmann and reviewed by Volker Rachold.