Einer klassischen Definition zufolge dreht sich Politik, und damit
Politikwissenschaft, im Kern um die Frage, wer was, wann und wie bekommt.
Daher fokussierten sich politiknahe Untersuchungen im „neuen“,
weil zeitweise eisfreien, arktischen Ozean auch oft auf Politiken
bezüglich territorialer Besitzansprüche, Zugang zu Ressourcen wie
Öl oder Fisch, sowie der Kontrolle von Seewegen. Die Nachfrage nach
solchen traditionellen geopolitischen Analysen ist spätestens seit 2007
gestiegen. Seitdem wurden zum Beispiel russische Aktivitäten in der
Arktis vor allem im Lichte des konfrontativen und aggressiveren Kurses
gesehen, den Putin auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar des
Jahres skizziert hatte und der sich in den folgenden Jahren im Georgienkrieg
und der Krimannexion ausdrückte. Der russische Angriffskrieg gegen die
Ukraine und seine Auswirkungen auf die Arktisforschung und -politik haben
diesen Trend noch einmal verstärkt.
Aber das Abschmelzen des Eises forciert auch andere Fragen, die sich mit der
klassischen Definition von Politik nicht erschöpfend behandeln lassen.
Dazu zählen die existenziellen Probleme für lokale und indigene
Bevölkerungen der Arktis, deren wirtschaftliche Lebensgrundlage und
kulturelle Identität eng mit der (gefrorenen) Natur verbunden sind, aber
auch die Existenzbedrohung von Küsten- und Inselbewohnern weltweit, wenn
der Meeresspiegel durch das Schmelzen des grönländischen und
antarktischen Inlandeises steigt, und schließlich Risiken und
Gefährdungen im Leben von Milliarden von Menschen, insofern
geo-physische Entwicklungen an den Polen negative Klimaeffekte in anderen
Weltregionen erzeugen. Die Diskussion um das Anthropozän hat daher auch
in der Politikwissenschaft Spuren hinterlassen. Der Begriff hilft, die
planetare Dimension und die komplexen Verbindungen zwischen natürlichen
und gesellschaftlichen Entwicklungen, die nicht länger nur auf
abgegrenzte Orte oder Regionen beschränkt sind, zu fassen. Ein
komplementärer Begriff ist „Earth-System Governance“. Er
transportiert die Notwendigkeit einer Regulierung im globalen Maßstab.
Wenn man die Prämisse des Anthropozäns ernst nimmt und die strikte
Trennung von mensch- und naturbezogenen Fragen aufgibt, drängt sich
ausgehend von der Notwendigkeit des regulierenden menschlichen Eingriffs ein
Dialog zwischen Politik- und naturwissenschaftlicher Polarforschung mit
einer Makroperspektive auf (Erd-)Systemdynamiken und -regulierung auf. Er
könnte Impulse für interdisziplinäre Grundlagenforschung
über die Ko-Evolution der natürlichen und gesellschaftlichen Systeme
erzeugen. Aus politikwissenschaftlicher Sicht stellen sich Fragen der
Passung, des Zusammenspiels und der Reichweite von Regulierungsversuchen
sowohl in Bezug auf gesellschaftliche als auch in Bezug auf natürliche
Systeme. Das gilt vor allem in den Polargebieten, die zunehmend in den Sog
einer Globalisierung geraten und deren dramatischste Veränderungen
größtenteils andernorts verursacht werden. Die regionalen
Governance-Institutionen sind darauf jedoch nicht ausgelegt. Eine strikte
Beurteilung der Effektivität von Institutionen der
Earth-System-Governance lässt sich zudem nur vornehmen, wenn
Veränderungen natürlicher Systeme erfasst und der Einfluss von
menschlichen Regulierungsversuchen auf natürliche Systeme von
natürlichen Veränderungsprozessen unterschieden werden können.
Dazu sind Politikwissenschaftler auf naturwissenschaftlichen Beistand
angewiesen.
Wissenschaft spielt in den Institutionen der Polarpolitik eine herausragende
Rolle. Die naive Konzeption der Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik
lässt erstere die Erkenntnisse über naturräumliche
Zusammenhänge gewinnen und betraut letztere mit der Überführung
dieses Wissens in konkrete Handlungsstrategien (policies). Aber ein solcher
Informationstransfer mündet schon deshalb selten in der bloßen
Annahme und Umsetzung vorgeschlagener Empfehlungen, weil die Informationen
in einer Kakophonie unterschiedlicher Interessen und Wissensbestände
untergehen. Auf der Suche nach einer angemesseneren Konzeption hat sich die
Politikwissenschaft der Organisation von sogenannten Policy-Science
Interfaces, Konstellationen von Wissen/Nichtwissen und Macht/Ohnmacht im
Interessenausgleich politischer Entscheidungsfindung, und unter dem
Schlagwort „science diplomacy“ der Rolle von Wissenschaft in
der Verhandlungsdiplomatie zugewandt. Von einem Dialog in dieser
Mesoperspektive auf institutionelle Designs und Prozesse der Interaktion von
Wissenschaft und Politik könnten für Politik- und
Naturwissenschaften unterschiedliche Impulse ausgehen. Die entsprechende
politikwissenschaftliche Forschung benötigt die Erfahrungen von
Naturwissenschaftlern in Governance-Prozessen als empirisches Material.
Umgekehrt könnten politikwissenschaftliche Erkenntnisse über die
Funktionsweisen von „policy-science-interfaces“ und
„science diplomacy“ oder die Rolle von Wissenschaft in
Verhandlungen Hilfestellungen für die effektive Organisation
(natur-)wissenschaftlicher Beteiligung an Governance-Prozessen bzw.
Wissenschaftspolitik bereithalten. Der vom deutschen Arktisbüro des AWI
organisierte Arktisdialog wäre hier zum Beispiel sowohl mögliches
Untersuchungs- als auch Anwendungsobjekt.
Sowohl Politik- als auch Naturwissenschaftler wirken in der Gestaltung und
Umsetzung von Polarpolitik als „stakeholder“ mit. Die
Mikroperspektive nimmt sie als beteiligte Akteure in den Blick, die sich
nicht nur untereinander, sondern auch mit anderen Akteuren in Dialog begeben
und auseinandersetzen. Politikwissenschaftler interessieren sich für die
Vorrausetzungen und Konsequenzen solcher Dialoge (sind aber gleichwohl nicht
für die Organisation von Stakeholder-Foren zuständig): Welche
Akteure werden unter welchen Prämissen zugelassen? Hier interessiert
z.B. der Status staatlicher (und nicht-staatlicher) Akteure im
Antarktisvertragssystem. Aber auch die nicht nur völkerrechtlich
interessante Beteiligung indigener Gruppen in arktischer Governance und mit
ihr der umfangreiche Dialog zwischen indigenem Wissen und akademischer
Forschung. Das lenkt die Aufmerksamkeit auch auf die Frage nach
unterschiedlichen Vorstellungen von Natur und ihrem Bezug zur Gesellschaft,
die politischen Positionen aber auch wissenschaftlicher Forschung zugrunde
liegen. Wenn Natur nur als Fundus von Ressourcen erscheint, ergeben sich
andere Aufgaben und Ansatzpunkte für Wissenschaft im Dialog, als wenn
Natur existenzieller Charakter und unmittelbare Einbindung in
gesellschaftliche Ordnungen unterstellt wird. Politik- und
Naturwissenschaftler beeinflussen diese Vorstellungen mit ihrer Arbeit
kontinuierlich und sollten sich über ihre unterliegenden Konzeptionen im
Lichte anderer Wissensbestände gemeinsam Rechenschaft ablegen. Ein
Dialog zwischen Politik- und Naturwissenschaft in der Polarforschung
könnte insbesondere dann interessante Impulse liefern, wenn es gelingt,
gemeinsam Eigenschaften der Polargebiete zu benennen, welche die
üblichen Vorstellungen von Natur und Gesellschaft in den
gemäßigteren Breiten herausfordern. Schließlich stellt sich die
Frage, wie Politik- und Naturwissenschaftler zusammen kreative Lösungen
zur Umsetzung von Regulierung befördern können. Wo wie in der
Antarktis staatliche Institutionen fehlen, die beispielsweise das Einhalten
von Fischfangquoten überwachen oder gegen illegale Fischerei vorgehen
könnten, müssen andere Akteure identifiziert werden, die wie z.B.
Nichtregierungsorganisationen bei Implementation und Monitoring helfen
können. Für deren Erfolg sind nicht nur die politische Stellung und
Strategie der Akteure relevant, sondern auch konkrete Instrumente wie etwa
mit GPS-Sendern ausgestattete Seevögel, welche beim Auffinden illegaler
Fangaktivitäten helfen können.