Zum 50. Todestag von Fritz Loewe (1895–1974)
Cornelia Lüdecke
Anlässlich des 50. Todestages von Fritz Loewe (1895–1974) wird hier sein Rückblick auf „60 Jahre Leben mit dem Eis“ erstmals publiziert. Loewe wollte diesen Vortrag 1974 im Bergsteigerklub der Melbourner Universität halten, aber er starb überraschend wenige Tage zuvor. Eine maschinenschriftliche Kopie von seinem Vortrag in deutscher Sprache befindet sich im Nachlass des österreichischen Bergsteigers Matthias Koglbauer (1912–2006) in Graz. Loewe hatte Koglbauer 1963 während der Polartagung in Karlsruhe kennengelernt und korrespondierte seitdem mit ihm über die grönländische Eisdecke. Loewes Vortragsmanuskript hat Matthias Koglbauers Frau Helene Cornelia Lüdecke freundlicherweise zur Publikation 50 Jahre nach Loewes Tod überlassen. Es wird hier (im Appendix A1) wortwörtlich und ungekürzt in der damaligen Rechtschreibung mit einigen Erläuterungen in den Fußnoten wiedergegeben. Zum besseren Verständnis von Loewes Aktivitäten und Erlebnissen wird eine ausführliche Biographie vorangestellt.
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Fritz Loewe wurde am 11. März 1895 in Berlin geboren und niemand ahnte damals, dass er später Polarforscher und Begründer des australischen meteorologischen Instituts in Melbourne werden würde (Keil, 1987; Richmond, 2000). Zunächst folgte Loewe seinem Vater, dem jüdischen Landgerichtsrat Eugen Loewe (1855–1925), und begann in Grenoble inmitten der französischen Alpen ein Jurastudium, das er aber beim Ausbruch des ersten Weltkrieges abbrechen musste. 1914–1918 diente er als Funker und wurde mit dem Eisernen Kreuz (1. Klasse) ausgezeichnet. Anstatt sein Jurastudium wieder aufzunehmen, begann Loewe 1919 an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin Geographie, Meteorologie, Physik und Mathematik zu studieren. Die Alpen hatten es Loewe offenbar angetan, denn er trat zeitgleich in die Akademische Sektion Berlin des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins ein (Akademische Sektion Berlin des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, 1930). Von 1919 bis 1921 bekleidete er als cand. phil. den Vorsitz der Sektion, die er nach dem Weltkrieg erfolgreich reorganisierte. Außerdem wurde Loewe von 1920 bis 1923 am Meteorologisch-Magnetischen Observatorium Potsdam des Preußisch Meteorologischen Instituts unter Prof. Gustav Hellmann als Gast aufgeführt (Körber, 1993). 1923 promovierte Loewe schließlich bei Prof. Alfred Merz in Berlin mit einer Arbeit über die geographische Verteilung der Niederschläge in Afrika (Voß, 1992).
Nach seinem Studium nahm Loewe an verschiedenen Messkampagnen teil. So wurde er 1923 Assistent von Dr. Carl Dorno am Physikalisch-Meteorologischen Observatorium in Davos und untersuchte die kosmische Strahlung auf dem Jungfraujoch (Weiken, 1974; Keil, 1987). Vom 20. Januar bis 17. Februar 1925 ging er als ehemaliger Student von Alfred Merz an Bord der „Meteor“, um auf der Vorexpedition für die spätere Untersuchung des Mittelatlantischen Rückens während der Deutschen Atlantischen Expedition (1925–1927) ozeanographische Reihenmessungen durchzuführen (Spiess, 1985). Als die Vorexpedition in Santa Cruz auf Teneriffa Halt machte, nutzte Loewe die Gelegenheit und bestieg mit zwei Kameraden den Pico de Teide (Loewe, 1985).
Nachdem im Mai 1925 an der Wissenschaftlichen Flugstelle des Preußisch Aeronautischen Observatoriums Lindenberg in Staaken bei Berlin eine Stelle für einen Meteorologen und Beobachter frei wurde, wechselte Loewe zur Flugmeteorologie (Dubois, 1993). Im selben Jahr lernte er die Geographiestudentin Else Köster kennen, die ebenfalls die Berge liebte und 1926 Mitglied in der Akademischen Sektion Berlin wurde (Akademische Sektion Berlin des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, 1930). Im Sommer 1926 begleitete sie Loewe in die Schweiz, wo er den Wärmehaushalt des Aletschgletschers untersuchen wollte (Schwerdtfeger, 1975). Am 3. September 1927 heirateten sie und verbrachten ihre Flitterwochen von September bis Oktober in Anatolien, wo sie zusammen geologische und hydrologische Studien durchführten (Richmond, 2000; Rohde, 1931). Bis Loewe sich im Juni 1928 für eine Expedition nach Afghanistan beurlauben ließ, nahm er als Beobachter an mehr als 500 Wetterflügen teil (Dubois, 1993; Schwerdtfeger, 1975). Loewes Frau begleitete ihn auch auf dieser Reise und veröffentlichte den Bericht von ihrer gemeinsamen Besteigung des Elwend (ca. 3500 m) in Persien in der Festschrift zum 40-jährigen Bestehen der Akademischen Sektion Berlin (Loewe, 1930).
1929 wurde Loewe erneut von Prof. Hugo Hergesell vom Preußisch Aeronautischen Observatorium Lindenberg beurlaubt, damit er an Prof. Alfred Wegeners Vorexpedition teilnehmen konnte, auf der ein Aufstiegsgletscher für die Hauptexpedition (1930–1931) gefunden werden sollte (Dubois, 1993; Wegener, 1933; Weiken 1974). Ziel der Hauptexpedition war die Untersuchung der meteorologischen Gegebenheiten in der Atmosphäre über der grönländischen Eiskappe und die Bestimmung der Eisdicke. An der Vorexpedition wurden Wegener und Loewe von Johannes Georgi, dem künftigen Leiter der Station Eismitte auf dem Inlandeis, und Ernst Sorge, zuständig für die glaziologischen Arbeiten auf der Station, begleitet (Abb. 1).
Während der Hauptexpedition unternahm Wegener im Herbst 1930 zusammen mit Loewe und dem Grönländer Rasmus Willumsen eine letzte Versorgungsreise zur Eismittestation. Unterwegs erfror sich Loewe alle Zehen, so dass er auf der Station bleiben musste, während Wegener und Willunsen sich auf den Rückweg zur Weststation machten und unterwegs starben. Nachdem Georgi Loewes Zehen amputiert hatte, verbrachte Loewe die Überwinterung meist im Schlafsack liegend. Nach seiner Rückkehr zur Weststation im folgenden Frühjahr übernahm er die Leitung der Expedition bis Alfred Wegeners Bruder Kurt aus Deutschland nachkam und ihn ersetzte.
1932 wurde Loewe zusammen mit Ernst Sorge gebeten, als Wissenschaftler die Filmexpedition von Dr. Arnold Fanck nach Westgrönland zu begleiten, wo der Film „SOS Eisberg“ gedreht werden sollte (Sorge, 1933). Sowohl Loewes als auch Sorges Frau waren bei dieser Grönlandexpedition mit dabei.
Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933 verlor Loewe seine Anstellung am Aeronautischen Observatorium in Lindenberg und fand trotz mehrerer Vermittlungsbemühungen keine neue Stelle mehr (Voß, 1992). In dieser Zeit hatte er wohl Frau Sorge erzählt, dass sein Schwager nach seiner Verhaftung durch die Nationalsozialisten bei der Überstellung ins Gefängnis aus der Straßenbahn gesprungen sei und sich von einem nachfolgenden Bus überfahren ließ, um seiner Deportation ins KZ zu entgehen (Weiken, 1934). Offenbar hatte sie ihrem Mann davon erzählt, denn Ernst Sorge zeigte seinen ehemaligen Expeditionskameraden wegen angeblicher Greuelberichte über Konzentrationslager an (Wegener, 1934; Voß, 1992). Aufgrund dieser Denunziation wurde Loewe im Konzentrationslager Oranienburg in Schutzhaft genommen. Else Loewe informierte Georgi über den Tag der Verhaftung am 3. August 1934. Aufgrund einer Amnestie anlässlich des Todes des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg wurde Loewe am 31. August wieder freigelassen. Glücklicherweise konnte er mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Töchtern Ruth (geb. 1933) und Susanne (geb. 1934) nach England ausreisen, wo er zunächst am Scott Polar Research Institute in Cambridge arbeiten konnte (Schwerdtfeger, 1975; Voß, 1992; Anonym, 2001). Zudem erhielt er für ein Jahr ein Stipendium als Research Guest an der University of Cambridge, das später verlängert wurde.
In Januar 1937 bot der Vizekanzler der University of Melbourne (Victoria, Australien), Raymond Priesley, Loewe ein zweijähriges Carnegie Stipendium für einen Lehrauftrag in Meteorologie an seiner Universität mit Aussicht auf eine Dauerstellung an (Richmond, 2000; Voß, 1992). Priesley hatte nicht ohne Grund großes Interesse daran, den Polarforscher Loewe als Kollegen an die Universität zu holen, denn er selbst hatte als Geologe von 1910 bis 1912 an Robert Falcon Scotts zweiter Antarktisexpedition teilgenommen und 1922 das Scott Polar Research Institute mitgegründet (Wikipedia contributors, 2024). Schon im März 1937 übersiedelte Loewes Familie nach Melbourne, wo er 1939 die erste meteorologische Abteilung an einer australischen Universität aufbaute und bis zu seiner Pensionierung leitete (Voß, 1992; Schwerdtfeger, 1975; Richmond, 2000). Während des 2. Weltkrieges bildete er dort alle in Nordwestaustralien zur Wettervorhersage dringend benötigten Meteorologen aus.
Als 1944 an der Universität der der Melbourne University Mountaineering Club gegründet wurde, war Loewe selbstverständlich mit dabei und wurde später Ehrenmitglied auf Lebenszeit (Anonym, 1974; MUMC, 2010–2024).
1947 bot sich Loewe die Chance, an einer australischen Antarktisexpedition teilzunehmen, die jedoch erst wegen eines Maschinenschadens umkehren musste und Anfang 1948 wegen dichtem Packeis ihr Ziel auch im zweiten Anlauf nicht erreichte (Loewe, 1948). Schließlich konnte er sich an einer französischen Antarktisexpeditionen beteiligen und zunächst 1950 an der Einrichtung der Station Port Martin in Adélieland (Ostantarktis) mitwirken und dort in der Saison 1951–1952 überwintern, wo er neben meteorologischen Messungen auch glaziologische Untersuchungen durchgeführt hat (Loewe, 1950, 1953). Damals stellte er fest, dass das antarktische Eisschild an Masse zunahm (Richmond, 2000). Für seine erfolgreichen Arbeiten wurde er 1955 mit der britischen Polarmedaille ausgezeichnet. Es wird an dieser Stelle in Loewes Lebenslauf erwähnt, dass er der erste Deutsche gewesen sei, der in der Arktis und der Antarktis überwintert habe (Weiken, 1975, S. 94). Dies stimmt nicht, denn er war der dritte Überwinterer in beiden Polarregionen. Sowohl der Geograph Erich von Drygalski als auch der Biologe Ernst Vanhöffen haben zusammen bereits 1892–1893 an der Westküste Grönlands als auch in der Antarktis während der ersten deutschen Südpolarexpedition (1901–1903) überwintert (Lüdecke, 2007).
1958 bekam Loewe einen Auftrag der UNESCO, in Karachi (Pakistan) ein Lehr- und Forschungsinstitut für Meteorologie und Geophysik einzurichten (Schwerdteger, 1975; Weiken, 1974; Keil, 1987). In Begleitung seiner Frau erkundete er bei dieser Gelegenheit die Umgebung des Nanga Parbats und vermaß den Rückgang der dortigen Gletscher.
Schließlich ging Loewe 1960 als leitender Dozent für Meteorologie der Universität in Melbourne in den Ruhestand, was ihn jedoch nicht daran hinderte, täglich ins Institut zu gehen und weiter zu publizieren (Richmond, 2000). Nun begann auch eine rege interkontinentale Reisetätigkeit. Im Jahr der Pensionierung ging er nach Deutschland und hielt an den Universitäten in Bonn, Göttingen, Hamburg, Mainz und München Gastvorlesungen (Keil, 1987). Im Oktober 1963 nahm Loewe an der 4. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Polarforschung in Karlsruhe teil und hielt den Eröffnungsvortrag über „Arktis und Antarktis im Lichte neuerer Forschung“ (Ruthe, 1963; Loewe, 1964). Während dieser Tagung trafen sich die noch lebenden Teilnehmer von Alfred Wegeners Grönlandexpedition bzw. deren Ehefrauen (Abb. 2, 3).
Auf dieser Tagung lernte Fritz Loewe den Grazer Bergsteiger und Leiter von Expeditionen nach Ostgrönland Matthias Koglbauer kennen und stand seitdem mit ihm im regen Briefkontakt (Nachlass Koglbauer). Koglbauer hatte 1961 zunächst eine Gedenktafel für Alfred Wegener am Kamarujuk Fjord angebracht und dann den Ort der Weststation aufgesucht (Koglbauer, 1965; Loewe, 1968). Dort fand er einen Propellerschlitten, der auf einem Felsen 6 m über der Schneedecke stand und für den sich Loewe besonders interessierte. Nach eigenen Grönlandaufenthalten in den Jahren 1962, 1964 und 1967 veröffentlichte er einen Arbeit über den starken Rückgang des Inlandeises an der Weststation (Richmond, 2000; Loewe, 1968).
Neben der Teilnahme an Tagungen war Loewe zwischen 1961 und 1973 achtmal als Gastprofessor am 1960 gegründeten Byrd Polar Research Center an der Ohio State University in Columbus (Ohio, USA) tätig (Weiken, 1974). Auf Einladung seines Expeditionskameraden von Wegeners Hauptexpedition, dem Geophysiker Bernhard Brockkamp, hielt Loewe im Wintersemester 1965/66 auch in Münster Gastvorlesungen. 1970 reiste er in die USA, wo ihm die Ohio State University den Ehrendoktor (Hon. D. Sc.) verlieh. Als er 1971 an der 8. Internationalen Polartagung der Deutschen Gesellschaft für Polarforschung in Bad Harzburg teilnahm, erhielt er aus der Hand des 1. Vorsitzenden, seinem Expeditionskameraden aus Grönland Karl Weiken, die Karl-Weyprecht-Medaille (Ruthe, 1971). In seinem anschließenden Festvortrag ließ Loewe Alfred Wegener und seine Bedeutung für die moderne Polarforschung revuepassieren (Loewe, 1972).
Anfang April 1974 wollte Fritz Loewe im Melbourne University Mountaineering Club einen Vortrag über seine weltweiten Gletscherforschungen halten. Dazu kam es jedoch nicht mehr, denn am 27. März 1974 brach er überraschend auf dem Heimweg von der Universität nach einem Herzinfarkt zusammen und starb noch am selben Tag (Weiken, 1974; Schwerdtfeger, 1975).
Loewe hat in seinem arbeitssamen Leben über 170 Publikationen verfasst, darunter waren zehn Artikel, die in der Zeitschrift Polarforschung erschienen (Voß, 1992).
Die Australier ehrten Loewe bereits 1958 und benannten den Mount Loewe in der Ostantarktis (70°32′18.7′′ S, 67°46′26.8′′ E, 1050 m)1 und 1971 das Loewe Massif (70°35′01.0′′ S, 67°48′36.7′′ E, 1000 m)2 nach ihm. 1977 folgte von französischer Seite das Plateau Fritz Loewe in Adélieland (66°59′30.0′′ S, 141°34′00.0′′ E, 800 m)3 und 2017 von britischer Seite die Loewe Island westlich der Antarktischen Halbinsel (67°12′55.0′′ S, 67°49′20.0′′ W)4. Auch die Universität von Melbourne ehrte Fritz Loewe und nannte 1976 einen Hörsaal nach ihm (Richmond, 2000).
60 Jahre Leben mit dem Eis
Fritz Loewe
Fast 65 Jahre sind vergangen, seit ich an einem schönen Sommermittag mit meinem Vater auf dem Diavolezzapaß in der Berninakette der Schweizer Alpen stand. Wir waren über Felsen und Winterschneereste bis zu einer Höhe von 3,000 m gestiegen. Als wir den Kamm erreichten, eröffnete sich uns plötzlich ein Ausblick über das ganze Becken des Morteratschgletschers. Da standen die Gipfel der Berninagruppe, fast alle über oder nahe an 4,000 m hoch, leuchtend in ihren weißen, eisbedeckten Nordhängen, von denen ab und zu Neuschneelawinen mit einem dumpfen Grollen herniederdonnerten. Eine aus der Entfernung nur klein erscheinende weiße Schneewolke verbarg dann einen Teil des Berghanges, Zu unseren Füßen erstreckte sich die graue Schlange der Gletscherzunge ins Tal, wo sie begrenzt wurde von dem dunklen Grün der höchsten Wälder. Ich war schon früher in den Alpen, aber damals war ich noch zu jung, um den Ruf des Hochgebirges zu hören, und erst an diesem Tage des Jahres 1909 wurde meine Liebe zu den Höhen und mein Interesse an Eis und Schnee geboren, die seither zwei Generationen lang dauernd mein Leben bereichert haben.
Mein Vater hatte einen Führer genommen, der uns sicher über den Gletscher ins Tal bringen sollte. Es möge hier angeführt werden, daß Bergsteigen ohne Führer sich zu der Zeit erst zu verbreiten begann und bei dem damals bedeutendsten Bergsteigerklub, dem British Alpine Club, Mißbilligung begegnete. Einige wenige Schritte über Felsen brachten uns zu dem leicht überschreitbaren Gletscher. Wir waren bald unterhalb der Schneegrenze im Gebiet des bloßen Eises, und ich sah zum ersten Mal in die dunkelblau gähnenden Spalten, Zeugen des geheimen Lebens der großen Eismasse. Ich sah, wie das Wasser in den Schmelzwasserbächen herniederrauschte in meanderförmigen Canions, und ich hörte das Brüllen der Wassermassen, die in spiralförmigem Fall in die bodenlose Gletschermühle stürzten.
Vier Jahre später begann ich mein Universitätsstudium. Wir genossen wirklich die akademischer Freiheit und mußten ihren Versuchungen widerstehen. Wir durften jede Fächerverbindung wählen, die wir gern studieren wollten. Wir wurden ermutigt, uns für Gegenstände zu interessieren, die außerhalb unserer Studienrichtung lagen; man erwartete von uns, daß wir die Universität wechselten, bis wir einen geistesverwandten Professor oder Dozenten gefunden hatten, dem wir uns anschließen konnten. Solche Freiheit war möglich, weil wir vorm Ende des 4. oder 5. Studienjahres keine Prüfung machen mußten, und diese auch nur als individuelle Einschätzung. Wir wurden möglicherweise schlechter trainiert, aber besser gebildet als in dem rigorosen australischen System. Für mein erstes Semester wählte ich mir die Universität in Grenoble in Frankreich, vorgeblich um französisch fließend sprechen zu lernen, aber eigentlich eher, weil Grenoble am Eingang der wildesten und am wenigsten aufgeschlossenen Berggruppen der Alpen liegt, speziell den Oisans mit dem Meije, der wahrscheinlich auf der gewöhnlichen Route der schwierigste der Alpengipfel ist. Ich war erstaunt über die Tatsache, daß kaum einer meiner französischen Studienkollegen ein Interesse an den schönen Bergen zeigte, die ihre Stadt umgeben. Aber über ihren Köpfen hing das Damoklesschwert jährlicher Wettbewerbsprüfungen, während wir Ausländer ohne Prüfungsangst frei zu den Sternen aufsehen konnten.
Die Dauphiné, die Landschaft um Grenoble, war damals noch kaum für den Tourismus erschlossen und hatte nur wenige markierte Wege und Hütten. Das war eine gute Einführung für das spätere Bergsteigen in mehr entfernteren Teilen der Welt.
Hier in den französischen Alpen wurde ich zum ersten Mal mit einer Tatsache konfrontiert, die mich seitdem immer interessiert hat. Die meisten Gletscher erweckten den Eindruck zurückzugehen. Sie hatten ein Gebiet von Steinschutt und bloßem Felsen vor sich und so hohe Wälle lockerer Steine an ihren Seiten, daß sie nur durch Gletscher zu Zeiten ihrer größeren Ausdehnung dorthin befördert worden sein konnten.
Dann kam der Erste Weltkrieg, der den scheinbar stabilen Zustand Europas beendete und der mein Studium über vier Jahre lang unterbrach und mich in einen Studenten der Geographie und Meteorologie verwandelte. Dieses Studium verschaffte mir gute Begründungen dafür, jedes Jahr einige Zeit in den Alpen zu verbringen. Ich bekam besonderes Interesse für die Arbeit im Eis. In jener Zeit hatte der britische Bergsteiger Eckenstein5 einen Typ Steigeisen erfunden, die es möglich machten, ohne vieles Stufenschlagen auf Eishängen auszukommen. Bis dahin waren nur wenige Bergsteiger ohne Führer in der Lage gewesen, es bei dieser Arbeit den Berufsführern gleich zu tun. Diese arbeiteten häufig während der Wintermonate als Holzschläger in den Wäldern und waren deshalb überlegen in ihrer Fähigkeit, haltbare Stufen zu schlagen. Das wurde mit Eckensteins Erfindung von Steigeisen anders; sie machten es möglich, mit nur sehr wenig Stufenschlagen auf steilen Eishängen herauf- oder herab zu steigen.
Meine letzten Studienjahre und die gleich darauf folgenden waren Jahre einer Inflation, mit der verglichen die gegenwärtige unbedeutend erscheint. Wir hatten alle kein Geld, und Berlin, wo ich arbeitete und wohnte, war weit von den Alpen entfernt. Aber ich erhielt zu wiederholten Malen finanzielle Hilfe dadurch, daß ich wissenschaftliche Arbeiten in den Bergen machte. Für jemanden, der gern auf die Berge steigen möchte, war das aber kein ungetrübter Segen. Wenn das Wetter schlecht ist, kann man weder wissenschaftlich arbeiten noch auf die Berge steigen; wenn es aber gut wird, hat die Wissenschaft den Vorrang vor den Bergtouren. Nichtsdestoweniger gelang es mir, Arbeit und Vergnügen auf ein vernünftiges Maß miteinander zu verbinden; aber ich mußte meine Bergtouren öfter, als es im Rückblick vernünftig erscheint, allein durchführen.
In einem Jahr hielt ich mich mehrere Wachen am Jungfraujoch auf einer Höhe von 3,400 m auf, um die Weltraumstrahlung zu messen. Nur wenige Jahre vorher hatte man herausgefunden, daß von irgendwoher im Weltraum eine sehr durchdringende Strahlung in die Atmosphäre eindringt, Da diese Strahlung bei ihrem Durchgang durch die Atmosphäre sehr abgeschwächt wird, war es wichtig, sie an einer möglichst hoch gelegenen Stelle, entfernt von radioaktiven Felsen, zu messen. Zu der Zeit war das Jungfraujoch der höchste, leicht erreichbare Ort für einen längeren Aufenthalt. Damals wußte man noch nicht, ob die Strahlung gleichmäßig im Raum verteilt war; man hielt es für möglich, daß sie von einer bestimmten Sterngruppe ausgehe. Die kosmische Strahlung kann Eis nicht leicht durchdringen. Darum brachten wir unsere Instrumente in Gletscherspalten unter, die sich nur nach einer bestimmten Richtung öffnen, und beobachteten, ob die Strahlung stärker wurde, wenn einer der verdächtigten Sterne gerade in die Spalte hineinleuchtete. Es war eine Fleißaufgabe, diese Beobachtung Tag und Nacht unter ziemlich primitiven Verhältnissen durchzuführen. Aber es gab dafür auch einen Ausgleich, da man sich ab und zu einiger Stunden Schlaf berauben und einen der sich auftürmenden Gipfel in der Runde besteigen konnte, z.B. den 4,200 m hohen Jungfraugipfel.
In einem anderen Jahr hielten sich meine Frau und ich mehrere Wochen in einer Nachbarhütte auf, die fast so hoch wie das Jungfraujoch gelegen ist. Diese Hütten liegen am oberen Ende des, größten Alpengletschers, des 20 km langen Großen Aletschgletschers. Von unseren Hütten aus überblickten wir seine ganze Ausdehnung, sahen auf die verschiedenen Firnbecken, in denen sich der Schnee ansammelt, auf die ebene Strecke des Konkordiaplatzes, wo sich drei Gletscherströme vereinigen, und auf die lange Gletscherzunge mit ihrem blanken Eis zwischen steilen Berghängen, von denen Seitengletscher in Kaskaden herunterstürzen. Und Fragen tauchten auf, wie diese sich ständig bewegende Eismasse genährt wird durch Schneefall in ihren oberen Teilen, wie sich der Schnee in Eis verwandelt, wie dick das Eis ist und wie es weiter unten durch Schmelzen verschwindet. Als Beisteuer zur Lösung dieser Fragen widmeten meine Frau und ich einen Sommer den Messungen der Stärke der Sonnenstrahlung in diesen großen Höhen und der Temperaturveränderungen in Schnee und Fels. Wir arbeiteten fleißig und ließen einige schöne Tage vorbeigehen. Dann gingen wir hinüber in die Walliser Berge um das Matterhorn und den Monte Rosa, der mit über 4,500 m der zweithöchste Berg der Alpen ist. Wir erstiegen an einem wunderbar sonnigen Tag den Monte Rosa und gingen mit Steigeisen ohne Schwierigkeit die mit hartem, festem Schnee bedeckten Steilhänge hinauf. Und dann saßen wir stundenlang in der ruhigen Luft am Gipfel und schauten hinab auf den Gorner Gletscher, der sich an den jähen Felswänden des Matterhorn vorbeiwindet, und auf die andere, die italienische Seite, auf die noch weißere Oberfläche eines ununterbrochenen Wolkenmeeres, das die lombardische Tiefebene bedeckte.
Und ein drittes Mal waren wir auf dem Aletschgletscher im März gegen Winterende. In den Nächten war es kalt; während des Tages schien die Sonne Tag für Tag von einem wolkenlosen Himmel. Aber diesmal blieb kaum Zeit zum Bergsteigen. Wir halfen bei einem der ersten Versuche einer Gletscherdickenmessung. Diese Methode beruht auf der Bestimmung der Entfernung einer reflektierenden Oberfläche aus der Zeit, die ein Echo braucht, um am Entstehungsort des Geräusches gehört zu werden. Die durch eine Explosion auf der Oberfläche des Eise ausgelöste Erschütterung wird reflektiert an der Berührungsfläche zwischen Eis und Felsen, und die Zeit zwischen Explosion und Rückkehr der reflektierten Erschütterung wird gemessen. Auf diese Weise fanden wir eine Eisdicke von 700 m heraus, die größte Dicke eines europäischen Gletschers. Es mag erwähnt werden, daß diese mühsame Methode von vor 45 Jahren jetzt durch eine Radarmethode ersetzt worden ist, die es erlaubt, mit einem Flug über ein eisbedecktes Gebiet eine kontinuierliche Angabe der Eisdicken zu bekommen.
In der Tat waren diese Messungen eine Vorbereitung für eine Expedition auf das Inlandeis Grönlands, zu der ich wenige Wochen später aufbrach. Diese Expedition wurde geleitet von dem bekannten deutschen Professor für Meteorologie und Geophysik Alfred Wegener, dem Vater der Kontinentaldrifttheorie, und nahm mich von 1929 bis 1931 in Anspruch. Das ganze innere Grönland, ca. 1 Millionen Quadratkilometer, wird von einer ununterbrochenen Eismasse bedeckt, dem Grönländischen Inlandeis. Die Expedition 1929 war ein vorbereitendes Unternehmen. Eine ihrer Aufgaben war es, einen passenden Aufstieg zum Inlandeis für die Hauptexpedition in den nächsten Jahren zu finden. Das bedeutete Besichtigung vieler Gletscher an der Westküste der Insel. Hier gibt es eine Konzentration der sich am schnellsten bewegenden Gletscher der Erde. Manche von ihnen erreichen eine Geschwindigkeit von 20 m pro Tag oder 7 km im Jahr. Diese großen Eisströme sind vollständig von Spalten durchzogen, und es ist ganz unmöglich, auf ihnen nahe ihrer Mündung auch nur 100 m weit vorzudringen. Ihre ins Meer vorstoßenden Zungen brechen von Zeit zu Zeit als gigantische Eisberge ab. Begleitet von einem donnernden Geräusch und einer Erschütterung des festen Landes werden Gebirge treibenden Eises geboren. Wasserfontänen spritzen Hunderte von Metern hoch, gigantische Wellen eilen durch den Fjord, Eisberge und kleinere Eisschollen bewegen sich im wildesten Tumult, stoßen gegeneinander, zerbrechen und wälzen sich, In einer solchen Sintflut entstehen die Eisberge, die in den Atlantischen Ozean treiben und eine Gefahr für die Schiffahrtslinien sind.
Hinter den Küstenbergen erhebt sich das Inlandeis zu Höhen über 3,000 m, Hunderte und Hunderte von km ununterbrochener Schneedecke. Während der Hauptexpedition in den folgenden zwei Jahren hatte ich den Vorzug an der ersten Überwinterung teilzunehmen, die je im Inneren des grönländischen Inlandeises durchgeführt wurde. Wir wohnten in einer Eishöhle, 400 km von der Küste und den nächsten menschlichen Lebewesen entfernt ohne jede Verbindung mit der Außenwelt. Die Temperatur in der Höhle war um −10 °C herum, während draußen die durchschnittliche Wintertemperatur −40° war, und die tiefsten Temperaturen auf −65° herabfielen. Allein in der Polarnacht auf der endlosen Fläche, die im Mondlicht wie ein weißes Leichentuch leuchtete. Der Treibschnee gleitet unaufhörlich mit einem leise zischenden Geräusch, und über dem Kopf bewegen sich lautlos die grünen Finger des Nordlichts. Man hat den stärksten Eindruck von der Winzigkeit der menschlichen Existenz vor der gefühllosen Macht der mitleidslosen Natur.
Wir maßen an vielen Stellen die Dicke des Inlandeises6. Wir wissen jetzt, daß das Eis in Grönland durchschnittlich 1 km dick ist und daß es an manchen Stellen eine Dicke von gut über 3,000 m erreicht. Wir brachten die ersten ständigen Wetterbeobachtungen auf dem Inneren nach Hause. Wir erfuhren, wieviel Schnee sich im Inneren akkumuliert und wieviel in den Randgebieten abschmilzt. Wir fanden heraus, daß das Gewicht der Eismassen den unter ihnen liegenden Felsen mehrere 100 m in die flüssigere Magmaschicht darunter gedrückt hat. Aber unsere Erfolge wurden überschattet von dem Tod unseres Leiters, der zusammen mit einem treuen Eskimo in der Polarnacht umkam auf seiner Reise von der Mittelstation auf dem Inlandeis zur grönländischen Küste.
Zwanzig Jahre gingen vorbei. Ich kam nach Australien und an diese Universität auf Einladung des ersten Vicekanzlers, Sir Raymond Priestley, der wie ich auch einmal in einer Eishöhle überwintert hatte auf der letzten Scott-Expedition. Und nach dem Zweiten Weltkrieg kam die Gelegenheit, das andere große Inlandeis in der Antarktis kennen zu lernen.
Die erste Expedition, eine australische, auf dem berühmten Antarktis-Schiff, der ”Wyatt Earp”, wurde durch dichtes Packeis vor dem australischen Kontinent blockiert. Wir konnten nicht im australischen Teil des Kontinents landen. Aber unser monatelanger Kampf darum gab mir die Gelegenheit, auch diese andere Art Eis auf der Erde kennen zu lernen, das Packeis, schwimmendes Eis und Eisberge, die zeitweise sogar einen größeren Teil der Erdoberfläche bedecken als die Inlandeise und Gletscher an Land.
Kurz danach nahm ich an zwei französischen Expeditionen zum antarktischen Inlandeis teil7. Wenn das Schiff sich dem antarktischen Kontinent nähert, reflektiert das unbefleckte Weiß der Schneebedeckung das Licht von Sonne und Himmel, und schon weit draußen auf See ist der Himmel im Süden vom Eisblink erhellt. Dort wo wir überwinterten, in einem Teil der Antarktis namens Adelieland, ist der Wind das charakteristischste Merkmal des Klimas. Wir waren wirklich in der ”Heimat des Blizzard”, wie ein berühmter Expeditionsbericht aus diesem Gebiet genannt wird8. Im Winter blies der Sturm fast unaufhörlich vom Inlandeis herunter. Durch Berührung mit dem kalten Schnee wird die Luft abgekühlt und fällt von der glatten Eisoberfläche herunter wie ein Wasserfall. Ein großer Teil des Schnees, der sich in den Hunderten von Kilometern im Inneren des antarktischen Inlandeises (das achtmal so groß ist wie das Inlandeis von Grönland) akkumuliert, wird durch diese Stürme entfernt.
Wir versuchten zu messen, wieviel Schnee weg und in die See getrieben wird, indem wir offene Kästen in verschiedenen Höhen dem blasenden Schnee entgegenstellten. Man erhält offensichtlich nur ein ungenaues Resultat, weil in einem starken Blizzard das Schneetreiben mehr als 100 m erreichen wird. Um solche oder meteorologische Beobachtungen zu machen in einem Wind von – sagen wir – 120 km/h, muß man zunächst alles sorgfältig sichern, alle Öffnungen der Parka schließen und die Kapuze fest um das Gesicht binden. Dann werden zehnzackige Steigeisen unter die Stiefel gebunden; sonst würde man von dem Wind auf dem hart gepreßten Schnee draußen überrollt werden.
Man geht aus dem Gebäude heraus in ein heulendes, zerrendes graues Chaos. Das Schneetreiben ist so dicht, daß die Sicht auf wenige Meter beschränkt ist, und selbst im hellsten Tageslicht bewegt man sich in einer undurchdringlichen Dunkelheit. Die Schneeteilchen, hart wie Stein bei der niedrigen Temperatur, treffen das Gesicht wie eine Handvoll Sand, und es ist unmöglich, die Augen offen zu halten. Man kämpft sich vorwärts, indem man sich tief hinunterbeugt gegen den Winddruck. Bei den stärksten Winden kann man sich gegen den Wind soweit zurücklehnen, daß die ausgestreckte Hand den Boden erreichen kann. Es ist klar, daß Außenarbeit für längere Zeit unmöglich ist. Erschöpft und atemlos taumelt man. zurück in den Frieden der Hütte, während draußen der Hurrikan heult, unaufhörlich, Tag für Tag.
Dennoch mag es für einen Meteorologen, der auf Rekorde begierig ist, eine Genugtuung sein, ein Jahr lang auf dem damals kältesten und dem windigsten Platz der Erde gelebt zu haben. Wir studierten, soweit es die Wetterbedingungen erlaubten, Gewinn und Verlust der Wärme und des Materials des Inlandeises, und wir kamen zu dem überraschenden Schluß, daß das antarktische Inlandeis wahrscheinlich heute an Substanz zunimmt. Das ist weithin bestätigt worden durch spätere mehr extensive Studien, steht aber im Gegensatz zu der Erfahrung in den meisten anderen Teilen der Erde, wie einige von Ihnen vielleicht auf den Gletschern von Neuseeland gemerkt haben. In drei Vierteln eines Jahrhunderts haben die meisten Gletscher in der Mehrheit aller mit Gletschern bedeckten Berggebiete abgenommen; eine Anzahl kleinerer sind vollständig verschwunden.
Einige Jahre später hatte ich Gelegenheit, zur Klärung dieses Problems beizutragen. Ein einjähriger Aufenthalt in Karachi in Pakistan gab meiner Frau und mir die willkommene Möglichkeit, den nordwestlichen Himalaya kennen zu lernen, die Umgebung des Nanga Parbat, der mit 8,100 m der achthöchste Berg der Erde ist. Die Gletscher des Nanga Parbat sind vor 110 und vor 25 Jahren besucht und studiert worden, und wir waren sehr daran interessiert, ob diese Gletscher auch zurückgegangen seien, wie die von Europa, Nordamerika und Neuseeland.
Der Nanga Parbat ist nicht der höchste aller Berge auf der Erde, aber er ist vielleicht der eindrucksvollste, weil, anders als der Mount Everest, diese Gruppe ganz isoliert dasteht und sich 2000 m über die umgebenden Berge auftürmt. Die Südwand erhebt sich vorn Rupaltal in 3,000 m Höhe in einem Zuge bis auf 8,000 m und ist somit die größte der Welt. Die Wand ist dreimal so hoch wie die berühmte Eigernordwand in den Alpen. Aber wir waren durchschnittlich 60 Jahre alt und mußten zufrieden sein, zu Höhen von 4,500 m aufzusteigen. Von dort konnten wir die Gletscher übersehen, die von den steilen Abhängen des Nanga Parbat herunterkommen und sich in den Tälern unten ausbreiten.
Wegen der Steilheit des Massivs haben diese Gletscher keine großen Akkumulationsbecken, die den Schnee sammeln, der die Gletscherzungen nährt. Diese Gletscher werden fast ausschließlich von Schnee- und Eis-Lawinen versorgt, die von den steilen Bergseiten herunterkommen, Diese Lawinen bringen einen großen Teil Steinschutt von den unstabilen Bergflanken mit; und wo das Eis zu schmelzen beginnt, bleiben die Steine liegen. Infolgedessen sind die niedrigeren Teile der Gletscher vollständig mit einer dicken Geröllschicht bedeckt, und nur an wenigen Stellen wird das darunterliegende Eis sichtbar.
Eine weitere Folge ist, daß diese Gletscher relativ leicht überquert werden können, und man kann dort Männer, Frauen und Kinder treffen, die von ihren Dörfern zu den hoch gelegenen Weiden Vieh, Schafe und Geißen treiben und Pferde führen. Wir fanden heraus, daß die Gletscher des Nanga Parbat an dem weltweiten Gletscherrückgang teilhatten. Wir hatten weder Zeit noch Kraft für wirklich große Klettereien, aber wir hatten wochenlang eine ununterbrochene Aussicht auf die großartigste Bergscenerie der Welt, und ich möchte hier darauf hinweisen, daß die Aussicht aus halber Höhe doch immer soviel schöner ist als die von den höchsten Gipfeln.
Seitdem war ich dreimal wieder auf dem Grönländischen Eis. Im Alter von 67 Jahren habe ich noch einmal eine Woche lang einen Schlitten quer über ein Eiskap am Rande des großen Inlandeises gezogen9. Zwei Sommer lang habe ich die Schichtung von Eis und Schnee studiert, und ich habe die Strahlung von Sonne und Himmel gemessen, die die Menge des Schmelzwassers bestimmt, das in den Firn eindringt oder auf dem blanken Eis am Rand abläuft. In einer Stunde flog ich über das Inlandeis, wozu ich mit dem Hundeschlitten einen Monat brauchte. Ich sah in der Mitte des Inlandeises die großen Radarstationen mit ihren leuchtenden Metallkugeln10; – (sie sind auf hohen Stelzen errichtet, sodaß das Schneetreiben unter ihnen durch kann) – , wo wir vor 40 Jahren in unserer Eishöhle überwinterten, wo jetzt die Teams mit Koffern und Straßenkleidung einfliegen und wo einzelne von ihnen sich nicht weiter als 1 km hinauswagen in die grenzenlose weiße Wüste. Mit einem Kameraden der Expedition von 1930 und unseren Frauen war ich vor Kurzem noch einmal an der Stelle des Inlandeises, von der unsere Expedition 1930 aufbrach. Auf den letzten Felsen, die aus der weißen Unendlichkeit herausragten, fand ich die zerstreuten Überreste unserer Expedition von vor 40 Jahren und nahm einen traurigen Abschied von der Vergangenheit.
Und ich war noch einmal im Engadin, wo ich vor 65 Jahren eingeführt wurde in die Glorie der Berge, des Schnees, des Eises und der Gletscher. Aber der Ausblick erwies sich sehr verschieden von der Erinnerung, die ich aus meinen Jugendtagen bewahrte. Wo dem Auge damals eine reine Eiszunge begegnet war, die sich tief in das Tal hinein erstreckte, war der Talboden jetzt aper und nur mit einer mächtigen Geröllschicht überlagert, und erst in weiter Entfernung war das Eis frei von dieser würgenden Bedeckung. Wo die Gletscher aus den Seitentälern sich mit dem Haupteisstrom vereinigt hatten, hatten sie sich jetzt in die Täler zurückgezogen, und die den Gletscher begrenzenden Abhänge zeigten nackten Felsen. Und an einem frühen Morgen stand ich wieder auf dem Diavolezzapaß, wo ich zuerst vom Anblick der hohen Berge überwältigt wurde. Diesmal bedeckten treibende Wolken die Gipfel. Feuchter Schnee begann zu fallen, ein kalter Wind sprang auf, und ich mußte in die Dunkelheit zurückkehren.
Für jeden von uns kommt die Zeit, in der wir resignieren müssen und in der der Nebel des Alters beginnt, die glorreichen Höhen zu verbergen, die wir einst zu erreichen hofften. Aber wir können uns noch erinnern an die Höhen, die wir einmal erklommen, an das Unbekannte, das wir als erste sahen, an die Bergsonne, die unserem Lebensweg leuchtete. Und wenn die Nacht näher kommt, können wir noch mit dem Türmer in dem deutschen Gedicht sprechen:
Zum Sehen geboren,
zum Schauen bestellt,
dem Turme geschworen,
gefällt mir die Welt.
Ich blick in die Ferne,
ich seh in die Näh,
den Himmel, die Berge
das Eis und den Schnee.
So seh ich in allen die ewige Zier,
und wie mirs gefallen,
gefall ich auch mir.
ihr glücklichen Augen
was je ihr gesehn,
es sei, wie es wolle,
es war doch so schön!
es war doch so schön!
Alle zusätzlich genutzten Informationen sind öffentlich zugänglich.
Cornelia Lüdecke betätigt sich auch im Editorial Board von Polarforschung. Die Begutachtung wurde von unabhängigen Editor:innen durchgeführt.
Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten, institutionellen Zugehörigkeiten oder anderen geographischen Begrifflichkeiten neutral. Obwohl Copernicus Publications alle Anstrengungen unternimmt, geeignete Ortsnamen zu finden und im Manuskript anzupassen, liegt die letztendliche Verantwortung bei den Autor:innen.
Mein herzlicher Dank geht an Helene Koglbauer in Graz, die mir Loewes Manuskript und weitere Materialien zur Veröffentlichung gegeben hat. Außerdem danke ich Diedrich Fritzsche für seine hilfreichen Hinweise für meine Einleitung.
Dieser Artikel wurde von Lena Nicola and Bernhard Diekmann redaktionell betreut und durch Diedrich Fritzsche begutachtet.
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Wikipedia contributors: Raymond Priestley, Wikipedia, The Free Encyclopedia, https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Raymond_Priestley&oldid=1190799413, last access: 25 March 2024.
https://data.aad.gov.au/aadc/gaz/scar/display_name.cfm?gaz_id=1587 (letzter Zugriff: 2. April 2024)
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https://data.aad.gov.au/aadc/gaz/scar/display_name.cfm?gaz_id=140285 (letzter Zugriff: 2. April 2024)
Der britische Bergsteiger Oscar Eckenstein (1859–1921) war deutsch-jüdischer Abstammung. (https://de.wikipedia.org/wiki/Oscar_Eckenstein, letzter Zugriff: 2. April 2024)
Dies geschah erst nach der Überwinterung im Sommer 1931.
Loewe half 1950 beim Aufbau der französischen Antarktisstation Port Martin und überwinterte dort 1951/52 auf (Voß, 1992; Weiken, 1974)
„Heimat des Blizzard“ ist der Titel von Douglas Mawsons Bericht der von ihm 1911–1914 geleiteten ersten Australischen Antarktisexpedition.
Dies geschah im Jahr 1962.
Die Radarstationen Dye-2 und Dye-3 wurden während des Kalten Krieges im Rahmen des amerikanisch-kanadischen Frühwarnsystems vor russischen Raketen (Early Distant Warning line, DEW line) Ende der 1950er Jahre auf dem grönländischen Inlandeis eingerichtet und bis 1988 betrieben (https://en.wikipedia.org/wiki/DYE_Stations, letzter Zugriff: 2. April 2024).
- Kurzfassung
- Ausbildung und erste Messkampagnen
- Feste Anstellung und private Forschungsreisen
- Grönlandexpeditionen
- Denunziation und Emigration nach England
- Auswanderung nach Australien
- Expeditionen in die Antarktis und zum Nanga Parbat
- Reisen und Aktivitäten im Unruhestand
- Ehrungen
- Appendix A: Anhang A
- Datenverfügbarkeit
- Interessenkonflikt
- Haftungsausschluss
- Danksagung
- Begutachtung
- Literatur
- Kurzfassung
- Ausbildung und erste Messkampagnen
- Feste Anstellung und private Forschungsreisen
- Grönlandexpeditionen
- Denunziation und Emigration nach England
- Auswanderung nach Australien
- Expeditionen in die Antarktis und zum Nanga Parbat
- Reisen und Aktivitäten im Unruhestand
- Ehrungen
- Appendix A: Anhang A
- Datenverfügbarkeit
- Interessenkonflikt
- Haftungsausschluss
- Danksagung
- Begutachtung
- Literatur