Ausreise nach dem südlichen Eismeer: Wilhelm Heinrichs Erlebnisse als Zimmermann auf Filchners Deutschland im Jahr 1911
Cornelia Lüdecke
Unter den Matrosen der zweiten Deutschen Antarktisexpedition (1911–1912) befand sich der polarerfahrene Zimmermann Wilhelm Heinrich, der bereits während Erich von Drygalskis Südpolarexpedition (1901–1903) auf der Gauss gedient hatte. In seinem Tagebuch hielt Heinrich die wichtigsten Ereignisse der Reise fest, die sowohl ihn selbst, die wissenschaftlichen Arbeiten, als auch die allgemeine Stimmung an Bord betrafen. Er notierte die aufkommenden Spannungen zwischen einigen Wissenschaftlern, der Schiffsleitung und den Matrosen. Ergänzt werden seine Eindrücke durch die Publikationen des Geographen Willi Ule, von Filchners Stellvertreter Heinrich Seelheim und des Expeditionsarztes Ludwig Kohl, die alle schon in Pernambuco, Buenos Aires, bzw. in Südgeorgien die Expedition verließen. Die hier zusammengestellten Aufzeichnungen ergeben ein lebhaftes Bild von den sozialen Verhältnissen während des ersten Fahrtabschnitts an Bord der Deutschland im Jahr 1911, über die in Filchners offiziellem Reisebericht wenig steht. Es deuteten sich bereits Konflikte an, die sich im Verlauf der Expedition in die Antarktis weiterhin verstärkten.
Among the sailors of the second German Antarctic Expedition (1911–1912) was Wilhelm Heinrich, a carpenter with polar experience who had already served on Erich von Drygalski's South Polar Expedition (1901–1903) on the Gauss. In his diary, Heinrich recorded the most important events of the voyage, which concerned himself, the scientific work, as well as the general mood on board. He noted the emerging tensions between some scientists, the ship's management and the sailors. His impressions are supplemented by the notes of the geographer Willi Ule, Filchner's deputy Heinrich Seelheim, and the expedition doctor Ludwig Kohl, all of whom already left the expedition in Pernambuco, Buenos Aires, and South Georgia, respectively. The notes compiled here give a vivid picture of the social conditions during the first leg of the voyage aboard the Deutschland in 1911, about which Filchner's official voyage report says little. Conflicts were already apparent and these continued to intensify as the expedition progressed to Antarctica.
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Wilhelm Heinrich (1879 in Zeven bei Altona geboren, 1952 in Hamburg gestorben) war Schiffszimmermann und ausgebildeter Marinetaucher. Nachdem er von der ersten deutschen Südpolarexpedition auf der Gauss unter der Leitung von Erich von Drygalski (1865–1949) zurückgekehrt war, fand er auf verschiedenen Schiffen Arbeit und lernte auf diesen Reisen Nord-, Zentral- und Südamerika kennen. (Vollmer, o.D.). Im Dezember 1905 wurde er Zollbediensteter in Glückstadt, 1906 heiratete er die Schneiderin Wilhelmine Gimmini und zog dann wieder nach Altona.
Als er von der neuen Antarktisexpedition hörte, bewarb er sich, um einerseits das Einerlei des Zolldienstes zu unterbrechen und um andererseits durch die Polarzulage mehr Geld für eine gute Ausbildung seines Sohnes zu verdienen. So wurde er 1. Schiffszimmermann der Zweiten Deutschen Antarktisexpedition (1911–1912) an Bord der Deutschland unter der Leitung des bayerischen Offiziers Wilhelm Filchner (1877–1957). Heinrich war nicht der einzige, der bereits Polarerfahrung von der Südpolarexpedition auf der Gauss mitbrachte, die 1902 am Südpolarkries bei 90∘ Ost überwintert hatte. Neben Heinrich waren es der 2. Offizier Richard Vahsel (1866–1912), der nun wegen seiner Eiserfahrung als Kapitän der Deutschland eingestellt wurde, und Heinrichs Kameraden Karl Klück (geb. 1869) als Koch, Richard (Georg) Noack (geb. 1877) als Präparator und August Besenbrock (geb. 1882) als Obersteward, sowie der norwegische Eislotse Paul Björvig (1857–1932) wieder mit dabei (Drygalski, 1904, pp. 34–35, 43–46, 50–51, Filchner, 1922, p. 11).
Ziel der Expedition war das südliche Weddellmeer, denn Filchner wollte den Zusammenhang zwischen der kleineren Westantarktis und der größeren Ostantarktis untersuchen (Filchner, 1922, pp. 1–8). Insbesondere wollte er klären, ob beide Teile zwischen den tiefen Einschnitten des Weddellmeeres und des Rossmeeres durch einen mit Eis bedeckten Kanal oder durch eisbedecktes Land miteinander verbunden waren.
Zu Beginn waren auf der Reise nach Süden neben dem Kapitän und den drei Offizieren, ein Ingenieur, acht Wissenschaftler und 19 Matrosen an Bord der Deutschland (Ule, 1924, p. 26 f.). Der Tagesablauf war klar geregelt (Seelheim in Filchner, 1922, p. 38). Der Tag begann um 06:00 Uhr mit Kakao und Gebäck, dann folgte um 08:00 Uhr das Frühstück, zu dem es einen warmen Gang gab sowie Kaffee, Brot, Butter und Marmelade. Zur Hauptmahlzeit um 12:30 Uhr wurde Suppe und ein Fleischgericht mit Gemüsebeilage aufgetischt. Der Nachtisch bestand meistens aus Kompott oder viel seltener aus einer Mehlspeise. Sonntags und am Donnerstag, d.h. dem Seemannssonntag, wurde schon nach dem Mittagessen Kaffee angeboten, an den übrigen Tagen gab es den Kaffee erst um 15:30 Uhr. Auch bekam an diesen beiden Wochentagen jeder eine Flasche Bier. Das Abendessen, bestehend aus einem warmen Gang, Tee und Aufschnitt, wurde täglich um 18:00 Uhr gereicht.
Während des ersten Fahrtabschnitts sollte bis zur geplanten Ankunft in Buenos Aires am 10. September 1911 innerhalb von vier Monaten ein umfangreiches ozeanographisches und biologisches Messprogramm durchgeführt werden (Brennecke, 1921, pp. 1–2, 14–15). Insbesondere galt es, den Verlauf der Mittelatlantischen Schwelle (heute: Mittelatlantischer Rücken) näher zu untersuchen, da es in dieser Region bisher nur wenige Lotungen gab. Sie würde erst von der Meteor-Expedition in den Jahren 1925 bis 1927 in 13 Querschnitten detailliert erforscht werden. Der nördliche Abschluss des Brasilbeckens und das Zusammentreffen des warmen Brasilstroms und des kaltem Falklandstroms waren ebenfalls von großem Interesse. Die aktuelle Route und die einzelnem Stationsarbeiten wurden in Absprachen zwischen dem Ozeanographen Wilhelm Brennecke (1875–1924), dem Biologen Hans Lohmann (1863–1934) und Kapitän Vahsel festgelegt (Abb. 1).
Die Anzahl der gewünschten Lotungen wurde jedoch oft durch die aktuellen Gegebenheiten begrenzt, weil es „nicht möglich war, alle paar Stunden sämtliche Segel zu bergen und den Kessel aufzuheizen“, um dann mit Motorhilfe am Stationsort zu bleiben (Brennecke, 1921, p. 14). Die Stationsmessungen dauerten meistens vier bis sechs Stunden. Während der Lotung führte Lohmann mit der vorderen Winde Brutnetzfänge in größeren Tiefen durch oder setzte ein Planktonnetz für die Wassersäule zwischen 0 und 200 m ein. Anschließend folgten ozeanographische Reihenmessungen mit Kippthermometern und Wasserschöpfern sowie biologische Stufenfänge in verschiedenen Tiefen. Diese Arbeiten waren meisten um 15:00 Uhr beendet. Insbesondere interessierte sich Brennecke für die ozeanischen Verhältnisse in der Wasserschicht zwischen 1500 und 3000 m, die damals wegen des benötigten Zeitaufwandes für die Messungen noch kaum untersucht worden war.
Der Geograph und Limnologe Willi Ule (1861–1940) begleitete die Reise bis Pernambuco und beschrieb die wissenschaftlichen Tätigkeiten in seinem Buch über Südamerika (Ule, 1924, pp. 37–38). Täglich wurden verschiedene meteorologische Messungen durchgeführt, während die Lotungen alle zwei Tage meistens um 08:00 Uhr starteten und bis zum Nachmittag dauerten. Üblicherweise war eine Lotung nach zwei bis drei Stunden beendet, konnte aber auch mehr Zeit in Anspruch nehmen, wenn sie bis 5000 m hinabreichte. Zudem wurde auch in verschiedenen Tiefen die Wassertemperatur gemessen und Wasser geschöpft. Außerdem fing der Zoologe (Lohmann) mit besonderen Netzten das Tierleben in verschiedenen Tiefen ein. Üblicherweise halfen Wissenschaftler und Matrosen bei allen Untersuchungen. Am Ende der Messungen wurden unter dem Gesang der Matrosen die Segel wieder gesetzt. Die bei den Lotungen oder bei Windstille benötigte Dampfmaschine war bei den Matrosen „nicht sehr beliebt, sie nannten sie „die olle Kaffeemühle“ und freuten sich stets, wenn bei auffrischendem Winde die Maschine abgestellt wurde.“ (Ule, 1924, p. 27).
Der Expeditionsarzt Ludwig Kohl (später Kohl-Larsen, 1884–1969) hielt es in seinen Aufzeichnungen zur zweiten Deutschen Antarktisexpedition rückblickend für wesentlich sinnvoller, wenn die Expedition gleich und „personell geschlossen“ in Richtung Antarktis aufgebrochen wäre, ohne zuvor die Kräfte der Expeditionsteilnehmer bei den Stationsmessungen aufzubrauchen (Kohl in Renner, 1991, p. 67). Sowohl der Expeditionsleiter Filchner, der zweite Bordarzt Wilhelm von Goeldel (*1881), Alfred Kling (*1882) als Wachoffizier und der Alpinist Felix König (1880–1945) würden erst in Buenos Aires an Bord der Deutschland kommen, sowie ein Matrose, ein Leichtmatrose und ein Heizer als Ersatz für die dort zu entlassenen Männer (Filchner, 1922, p. 46).
Wilhelm Heinrich schrieb vom 4. Mai (Abreise aus Hamburg am 3. Mai) bis 5. September 1911 (vor Buenos Aires) jeden Tag einen mehr oder weniger kurzen Tagebucheintrag in ein kartoniertes Heft, das sein Enkel 2022 abgetippt und zur Verfügung gestellt hat. Dabei wurde die Orthographie in der Original-Handschrift unverändert übernommen und nur die individuelle Zeichensetzung korrigiert (Heinrich, 1911) (Abb. 2).
Während der ozeanographischen Messungen auf der Reise nach Buenos Aires hieß es öfter nur „gesegelt und gedampft“, „gelotet und gefischt“ oder „sonst nichts Neues“. Sonntags war „Zeugtag“, d.h. Wäschetag. Wenn Heinrich diese Arbeiten erwähnte, kann man davon ausgehen, dass er daran selbst beteiligt war. Nähere Ortsangaben verzeichnete er bei seinen Einträgen nicht, aber offensichtlich interessierte er sich für alle wissenschaftlichen Untersuchungen, die unterwegs durchgeführt wurden.
Nach der Abreise in Bremerhaven begannen am 10. Mai 1911 im englischen Kanal die wissenschaftlichen Arbeiten, an denen alle Matrosen beteiligt waren (Heinrich, 1911). Am 13. Mai wurde zum ersten Mal gelotet, am nächsten Tag aus verschiedenen Tiefen Wasser geschöpft und gefischt. Um die große Lukas-Lotmaschine einsetzen zu können, mussten zunächst 7000 m Draht auf die Trommel aufgerollt werden. Mit ihr konnte jedoch wegen der hohen Dünung erst am 16. Mai gelotet werden, während mit der kleinen Maschine bereits schon mehrfach aus verschiedenen Tiefen gefischt wurde.
Nach zwei Wochen auf der Deutschland verzeichnete Heinrich, dass in ihrer Unterkunft, der Mannschaftsraum lag vorne unter dem Hauptdeck (Ule, 1924, p. 26), eine sehr schlechte Luft herrschte (Heinrich, 17.5.1911). (Abb. 3). Dieses bekümmerte offensichtlich niemand außer die Betroffenen.
Als am 18. Mai wieder gelotet wurde, notierte Heinrich den ersten Verlust, denn der Draht war bei 2600 m Tiefe ohne Grundberührung abgerissen. Immer wieder wurde die Deutschland diesseits und jenseits der Mittelatlantischen Schwelle für Lotungen gestoppt (Abb. 4). Wenn Heinrich etwas über die Hintergründe der Messungen erfuhr, schrieb er sie ebenfalls in sein Tagebuch. So geschah es am 25. Mai: „Es wurde im ganzen achtmal gelotet. Es hat ein Franzose früher festgestellt, daß hier eine Tiefe von 120 m sein soll, aber leider wir haben 1600 bis 2000 m gelotet.“ (Heinrich, 25.5.1911). Damit konnte die fehlerhafte Messung korrigiert werden. Hier handelte es sich um die Nachmessung einer vermeintlichen Untiefe, die der ungenannte Kapitän der Chaucer 1850 gelotet hatte (Brennecke, 1911, p. 351). Übrigens wurden die schweren Lotkugeln am Ende des Lotdrahtes, wie Ule berichtete, nach dem Vermessungsschiff Möve allgemein auch „Möveneier“ genannt (Ule, 1924, p. 38f).
Am selben Tag wurde eine Schildkröte gefangen, die völlig mit Langhalsen (Muscheln) bewachsen war und deren Alter auf 200 Jahre geschätzt wurde. Sie war 1,40 m lang, 75 cm breit und wog 2 Zentner (Ule, 1924, p. 49). Am folgenden Tag gab es dann zur Abwechslung beim Abendbrot Schildkrötenragout (Abb. 5).
Bemerkenswert war auch der Kontakt mit der Kronprinzessin Cecilie mittels drahtloser Telegraphie, für die der 3. Offizier Walther Slossarczyk (1887–1911) eine Ausbildung hatte (Heinrich, 27.5.1911) (Abb. 6). Die Kronprinzessin Cecilie verkehrte damals für den Norddeutschen Lloyd als Schnellpost- und Passagierdampfer auf der Nordamerikaroute zwischen Bremerhaven und New York (Wikipedia, 2023). Als Funker versorgte Slossarczyk auch die Offiziers- und Gelehrtenmesse mittags mit den neuesten Nachrichten (Ule, 1924, p. 43).
Eine weitere Abwechslung im Speiseplan war der Fang eines 2 m langen Schweinsfisches. So nannten die Seemänner die Delfine, weil sie ausgenommen und ohne Haut wie Schweine beim Schlachter aussahen (Ule, 1924, p. 51) (Abb. 7). Von ihm zu essen, war ein Genuss für Heinrich (Heinrich, 29.5.1911). Am nächsten Tag, bevor sie abends in Ponta Delgada (Azoren) vor Anker gingen, hatte er zwar ein „bischen Influenza“, aber es war das einzige Mal, dass er eine Krankheit von sich notierte. (Heinrich, 30.5.1911).
Erst am folgenden Tag konnten sie im Hafen anlegen, wo sie die lang ersehnte Post von daheim erhielten. Während an den folgenden Tagen die Wissenschaftler Ausflüge an Land machten, gab es für die Mannschaft sehr viel an Bord zu laden, denn sie „[b]ekamen 75 Tonnen Kohlen, die Tonne kostet 34 Schilling“ wie Heinrich vermerkte (Heinrich, 1.6.1911). Erst nach drei Tagen konnte er am Samstagabend an Land gehen, wo er in der dortigen Brauerei drei ansässige Deutsche traf, mit denen er den Abend verbrachte. Am Sonntag war für alle frei, so dass die Mannschaft schon um 08:00 Uhr an Land anzutreffen war. Heinrich wunderte sich, dass hier alle Einheimischen den ganzen Tag über zur Kirche gehen. Das Militärkonzert am großen Platz von 17:00 bis 19:00 Uhr bot einen gelungenen Abschluss seines Landganges.
Am 6. Juni brachen sie für die nächsten Lotungen an der Küste auf. Dabei riss einmal der Draht und 2000 m Draht gingen mit drei daran befestigten Wasserschöpfern verloren. Heinrich notierte einen Verlust von 1200 bis 1400 Mark.
Zwei Tage nach ihrem Aufbruch brachte ihnen der Postdampfer die lang erwartete zweite Post (Heinrich, 8.6.1911). Bei dieser Gelegenheit kam ein prominenter Besuch an Bord, dessen Namen Heinrich nicht nannte und der in Filchners Reisebericht gar nicht erwähnt wird. „Der II. Offizier, der bei Shackleton seine Expedition war, war bei uns zum Besuch.“ (Heinrich, 8.6.1911). Hierbei handelte es sich wohl um den 2. Offizier der Nimrod-Expedition Aeneas Mackintosh (1879–1916).
Im weiteren Verlauf der Reise untersuchte Brennecke, ob die Mittelatlantische Schwelle auch nördlich des Äquators nachweisbar war, was durch Lotungen bestätigt werden konnte (Seelheim in Filchner, 1922, p. 44). In der nächsten Zeit beteiligte sich der Expeditionsarzt Ludwig Kohl zusammen mit den Matrosen an den Schiffsarbeiten (Kohl in Renner, 1991, p. 70). Während sich die anderen Wissenschaftler zurückhielten und nicht wie er zugriffen und in die Wanten kletterten, hielt Kohl fest, dass die Mannschaft sein Mitwirken sympathisch auffassen würde. Heinrichs Tagebuch bestätigt dies. Kohl „arbeitet mit den Leuten zusammen den ganzen Tag. Die anderen Herren können sich halten.“ (Heinrich, 27.6.1911).
Hin und wieder machte Heinrich auch Bemerkungen über seine Kameraden, die ihm wohl am nächsten standen. So notierte er am 12. Juni, dass der Koch Karl Klück einen schlimmen Finger hatte und später operiert wurde. Zu dieser Zeit hielt Heinrich erstmals fest, dass die Stimmung in der Mannschaft nicht die beste war, „der Betrieb ist bis jetzt auch nicht besonders.“ (Heinrich, 13.6.1911). Vielleicht lag es daran, dass der Koch vorübergehend ersetzt werden musste? Es gab viel zu tun, als die Lot- und Fischarbeiten wieder aufgenommen wurden. Einige Tage später zog der Arzt Kohl einem Heizer einen gesunden Zahn und ließ den kranken stehen, was aber einem Verschulden auf beiden Seiten zugeschrieben wurde.
Die Tage wurden allmählich eintönig, da nichts Neues mehr geschah und sich Routine eingestellt hatte (Ule, 1924, p. 86ff). In der Freizeit fanden sich die Wissenschaftler zum Musizieren zusammen. Der Geologe Fritz Heim (1887–1980) spielte Zither, der Astronom und Erdmagnetiker Erich Przybyllok (1880–1954) Gitarre und der Arzt Kohl Mundharmonika. Die anderen sangen dazu. Allerdings wurden sie durch die Mannschaftskapelle übertroffen, die aus zwei Geigen, einer Flöte, einer Ziehharmonika, einer Trommel und einer Art Triangel bestand (Ule, 1924, p. 91). Jeden Sonntag traf sich die Kapelle zum Frühkonzert auf der Back.
Am 18. Juni wurden alle Expeditionsteilnehmer gewogen. Heinrich war mit 96 kg der schwerste. Am folgenden Tag begannen die ersten Vorbereitungen für die Äquatortaufe und es wurden verschiedene Orden geschnitzt. Als eine neue Kiste Proviant für die kommende Zeit ausgepackt wurde, beklagte sich Heinrich, dass sie wohl bis Buenos Aires keinen Käse erhalten würden, da viel zu wenig an Bord sei. Und der Proviant sei „nicht so schön als wie wir auf GAUSS hatten.“ (Heinrich, 21.6.1911). Das Dosenfleisch, ob Rind oder Schwein, schmeckte immer gleich und löste sich in einzelne Fasern auf und wurde deshalb auch „Kabeltau“ genannt (Seelheim in Filchner, 1922, p. 38). Die Tage verstrichen ohne neue Erlebnisse, bis es eines Morgens zur Freude aller überraschenderweise Thunfisch zum Samstagsfrühstück gab, „denn das Dosen-Fleisch schmeckt in der Wärme nicht.“ (Heinrich, 24.6.1911).
Am folgenden Sonntag entfiel bei schönem Wetter die große Wäsche, weil das Wasser an Bord bereits knapp war. Am selben Abend luden seine alten Expeditionskameraden von der Gauss-Expedition, der Koch Klück und der Steward Besenbrock, Heinrich zu sich ein. Sie hatten für diese Geselligkeit Bier und Wein aufgespart und nun tranken sie gemeinsam die Bestände aus. Sicherlich haben sie sich ausführlich über ihre damaligen Erfahrungen von vor gut zehn Jahren ausgetauscht und mit der jetzigen Expedition verglichen. Den ganzen folgenden Tag war Heinrich jedenfalls noch schlecht vom übermäßigen Alkoholgenuss.
Die Luft in Heinrichs Gemeinschaftsunterkunft wurde nicht besser, weil die Temperaturen ständig weiter anstiegen. Es war ein Segen, als Dr. Kohl mit seinen selbsternannten Arbeitskollegen Mitleid hatte und ihnen den elektrischen Ventilator aus seiner Kammer gab, den er selber nicht brauchte. „Es ist ein großartiger Herr.“ (Heinrich, 27.6.1911). Die andern Wissenschaftler könnten sich daran ein Beispiel nehmen.
Heinrich vermutete damals schon, dass es in Buenos Aires eine Änderung geben würde, denn an Bord liefe es nicht so, wie es eigentlich sollte. Der 1. Steuermann (Wilhelm Lorenzen, Lebensdaten unbekannt) würde morgens nicht grüßen, wenn er an Deck käme, weil er sich wohl für zu stolz hielt. Dieses Gebaren stieß Heinrich ab. So etwas dürfe seiner Meinung nach auf keiner Expedition passieren.
Am 30. Juni gab die Matrosenkapelle zum Geburtstag des Astronomen Przybyllock ein Ständchen. Offenbar ließen es sich die Herren anschließend im Salon gut gehen, während die Mannschaft, wie bei einer solchen Gelegenheit eigentlich sonst üblich, nicht bedacht wurde. Am Samstag mussten sie ihre Wäsche vorzeitig abbrechen und die Segel zum Loten festsetzen. Aber am Sonntagabend hatten sie dann zum Ausgleich ein feuchtfröhliches Beisammensein auf der Back mit fünf Flaschen Whiskey und Gesang bis 23:00 Uhr. Nun wurde der Wind böig. Heinrich lobte bei dieser Gelegenheit, dass die Deutschland viel besser lief als die Gauss, die wegen des gerundeten Rumpfes leicht rollte. Jeden Tag wurde nun gelotet und gefischt (Abb. 8).
Am 6. Juli bekam auch der Ozeanograph Brennecke morgens ein Geburtstagsständchen. „Es war diesmal aber alles so komisch, denn keiner wollte spielen und ich machte ihm kein Blumen-Bukett aus Werg als wie bei Dr. Przybyllock. Als wenn ein Unglück passieren soll“, unkte Heinrich und prompt geschah es auch (Heinrich, 6.7.1911). „Kurz darauf war ich beim Segelgat beschäftigt und fiel dabei über Bord. Gleich darauf, wie ich zu Besinnung kam, schrie ich um Hülfe und zum Glück hat Emil Pfeil mich gehört, denn der stand am Steuer. Es kamen denn auch gleich alle an Deck und helfen tat jeder kräftig, wie nachher erzählt wurde. Daß ich gerettet bin, kann ich das Schwimmen verdanken, denn das Schiff hatte 6 Meilen Fahrt und eine große See stand. 12 Minuten hat es gedauert, als ich vom Boot aufgefischt wurde. Es war mir doch etwas anders zumute, wie ich das Schiff fort fahren sah. Ich dachte doch an meine liebe Familie.“ (Heinrich, 6.7.1911) (Abb. 9).
Dieses Ereignis wurde allseits festgehalten. Der Eislotse Paul Björvig (1857–1932) beschrieb die Rettungsaktion in seinen Lebenserinnerungen mit kritischen Worten: „Am Morgen des 6. Juli wurden wir durch Rufe Mann über Bord hochgescheucht, es war der Zimmermann, der über Bord gegangen war, wir hatten den Wind genau von achtern, alle Segel gesetzt und machten 6 Meilen. Der Kapitän war augenblicklich auf der Brücke, aber es wurde eine ganze Menge herumgewirbelt bevor wir beigedreht hatten weil wir nicht gewöhnt waren zu brassen oder die Segel zu streichen, zwei Mann standen am Rigg und hielten Ausblick nach dem der über Bord gegangen war, als das Schiff in den Wind gekommen war, konnten wir ein Boot aussetzen, zu ihm hinkommen und ins Boot ziehen, er war etwas mitgenommen als wir ihn ins Boot bekamen, aber als er an Bord war und einen guten Schnaps bekam, kam er wieder zu Kräften, er war 20 Minuten im Wasser gewesen, aber er war ein guter Schwimmer.“ (Björvig, 1917, pp. 78–79).
Der Expeditionsarzt Kohl erinnerte sich noch Jahre später an alle Einzelheiten der Dramatik. Der „Schreckensruf des Zimmermanns auf der Tiefe, als er vor seinen Blicken den Segler verschwinden sah, das schmale Dreieck der Rückenflosse eines Haies, die schwere Dünung, die den um sein Leben Kämpfenden hob und senkte.“ (Kohl in Renner, 1991, p. 70). Und der Geograph Ule schrieb: Das „Schiff hatte unerwartet stark nach der einen Seite übergeholt, und dabei hatte der Mann den Halt verloren und war ins Wasser gestürzt. Glücklicherweise konnte er schwimmen. In fieberhafter Eile wurde das Schiff gedreht, der Rettungsring ausgeworfen, ein Boot ausgesetzt, … Es war eine aufregende Szene, die uns allen mächtig in die Glieder gefahren war und noch lange in uns nachwirkte trotz der Freude über die glückliche Rettung.“ (Ule, 1924, p. 100f).
Ob Heinrich wirklich von Haien bedroht wurde, sei dahingestellt. Später wurden jedoch zwei Haie gefangen, die es anschließend zum Abendbrot gab. Für Heinrich war deren sehr zartes Fleisch ein großer Genuss (Heinrich, 10.7.1911). Nun wurde es immer heißer, was der Norweger Björvig, der ebenfalls schon auf der Gauss mit dabei gewesen war, nicht gut vertrug und sich deshalb in die Koje legte.
Mitte Juli wurde das große Beiboot ausgesetzt, um mit einer ganz neuen Methode die Richtung und Stärke der Strömung in Atlantik zu messen. Dafür wurde das Boot mit 3500 m Draht verankert.
Allmählich ging das gebunkerte Frischwasser zur Neige. So waren alle froh, als es am 14. Juli endlich wieder stark regnete und sie drei Tonnen Wasser auffangen konnten, das als Frischwasser genutzt wurde (Ule, 1924, p. 107f). Durch die strickte Rationierung bekam zu dieser Zeit jeder nur eine Kanne Wasser am Tag, das zudem mit braunem Schlamm versetzt war. Für Trinkwasser wurde jedoch unterwegs Meerwasser destilliert.
An den folgenden Tagen wechseln sich nun wieder Lotungen mit Fischzügen ab und nichts Neues geschah, bis sie erneut unter Deck zur Trimmung Kohlen von einem anderen Raum in den Kohlenbunker schaffen mussten (Heinrich, 14.7.1911).
Schließlich erreichten sie Pauls Rock, wo vier Wissenschaftler mit dem 1. Steuermann und vier Matrosen an Land gingen. Währenddessen schlachtete Heinrich ein Schwein und nahm es so schnell aus, dass es bereits innerhalb von 45 min am Haken hing. Beim Abendbrot gab es eine Überraschung, denn Triton kam an Bord, um etliche Wissenschaftler und Mannschaftsmitglieder auf den großen Tag ihrer Äquatortaufe vorzubereiten. Nach seiner Ansprache wurde ein brennendes Teerfass über Bord geworfen und Triton verließ das Schiff wieder. Abends feierten sie noch den Geburtstag des Geologen Fritz Heim.
Am Freitag (21. Juli) passierten sie um 08:00 Uhr den Äquator, aber die Mannschaft musste noch bis 10:00 Uhr arbeiten. Schließlich begann um 13:30 Uhr der Umzug. Heinrich stellte Neptun dar, der zunächst den Kapitän begrüßte und sich dann in seiner Rede den Täuflingen zuwandte, die da waren Professor Lohmann, Professor Ule, Dr. Heim, Dr. Barkow, Dr. Seelheim, Dr. Przybyllock, der Leichtmatrose Zäncker (Lebensdaten unbekannt) und der Schiffsjunge Krause (Lebensdaten unbekannt) (Abb. 10).
Neptun wurde von seiner Frau begleitet, die von dem hübschesten Matrosen in einem langen weißen Kleid aus einem Nachthemd mit Gürtel dargestellt wurde (Ule, 1924, p. 112ff). Der schwarz gekleidete Pastor und Triton mit seinem Dreizack folgten ihnen. Der Astronom und der Doktor samt seinem medizinischen Koffer mit den Marterinstrumenten durften nicht fehlen. Zu Beginn der Zeremonie bekamen die bereits getauften Offiziere und Wissenschaftler nach einer lustigen Ansprache ihre Orden: Brennecke wegen seinen Lotarbeiten den Orden der Möveneier und Kohl einen großen Backenzahn, da er während der Reise einen falschen Zahn gezogen hatte. Dann bat Neptun den Astronomen, die Lage des Äquators zu bestimmen.
Nachdem sie die „Breite von 0 Graden und 0 Krummen“ erreicht hatten, begann die Taufe. Der Pastor verlas die Taufformel aus einer grob zusammengebastelten Bibel. Dann führten wild bemalte Polizisten die Täuflinge in die Messe, von wo sie einzeln wieder heraufgeholt wurden. Ule war der älteste Täufling, der zunächst vom Doktor unter „mäßigen Quälereien“ dahingehend untersucht wurde, ob er getauft werden könne. Weiter ging es auf dem Barbierstuhl, wo er mit Mehlkleister eingeseift und mit einem riesigen hölzernen Rasiermesser und einer ebenso riesigen Schere bearbeitet wurde. Der restliche Kleister wurde mit Wasser abgespritzt und das Gesicht mit einem Meerwasser getränkten Lappen abgetrocknet. Zum Abschluss fiel er zufällig nach hinten zur Ganzkörperwäsche in ein Wasserbassin. Die nachfolgenden Täuflinge wurden alle umso stärker gequält als Ule, je jünger und unbeliebter sie waren. Mit launigen Versen erhielt jeder Teilnehmer ein Taufzeugnis und die Wissenschaftler noch einen zusätzlichen Orden. Ule bekam wegen der Bestimmung der Wasserfarbe während der Reise „eine in Holz geschnitzte Farbenskala“ und weil er in seiner Kabine so viel schrieb den Taufnamen „Tintenfisch von Rostock“ (Ule, 1924, p. 115). Obwohl Heinrich einmal steckenblieb, fiel seine Rede sehr gut aus (Heinrich, 21.7.1911). Um 16:00 Uhr war die Taufzeremonie beendet. Nach Meinung der Mannschaft sei es die schönste Äquatortaufe gewesen, „die sie je erlebt hätten.“ (Ule, 1924, p. 116). Zur Feier des Tages erhielten die Männer Likör, Bier und Zigarren und alle ließen den Tag mit abendlichen fröhlichen Gesang ausklingen.
Am Tag nach der Äquatortaufe verloren sie bei einer weiteren Lotung 4000 m Draht und zwei Messgeräte, was Heinrich kommentarlos notierte (Heinrich, 22.7.1911). In Annäherung an Pernambuco wurde die Farbe am Schiff erneuert, wobei der zwischenzeitliche Regen die Malerarbeiten öfter störte. Nach der langen Seefahrt bemerkte Seelheim, dass sich „an Bord eine gewisse Nervosität entwickelt“ hätte, „die leicht zu Mißhelligkeiten, zu Zank und Streit unter den Beteiligten führte. Daraus erklärten sich auch die häufigen Reibereien.“ (Seelheim in Filchner, 1922, p. 44). Dieser „Expeditionskoller“ vermindere die Schaffenskraft der Expeditionsteilnehmer und dessen Überwindung erfordere große Mühe und Willenskraft, wie der stellvertretende Expeditionsleiter in seinem offiziellen Bericht schrieb.
Zwei Tage vor der Ankunft in Pernambuco versagte der Destillationsapparat und produzierte kein Trinkwasser mehr (Ule, 1924, p. 118). Zum Glück erreichten sie am 26. Juli noch rechtzeitig den Hafen, bevor ihnen das Trinkwasser ausging. Hier verließ Ule wie geplant das Schiff, um seine eigene Forschungsreise in Südamerika anzutreten.
Endlich erhielten die Expeditionsmitglieder wieder Post aus der Heimat, die am folgenden Tag fleißig beantwortet wurde (Heinrich, 26.7.1911). Abends konnte Heinrich dann zu seinem langersehnten Landgang aufbrechen und mit den Deutschen, die vorher zu Besuch an Bord gewesen waren, ein paar Flaschen Bier trinken. Tage später bekamen sie auf der Deutschland wieder viel Arbeit, denn am letzten Juliabend war „eine große Trinkerei an Bord gewesen. Es wurden zirka 120 Liter Bier getrunken, das heißt, es war nur für die Achtergäste.“ (Heinrich, 1.8.1911). Mit „Achtergäste“ bezeichnete Heinrich die Achterschiffer, d.h. die Wissenschaftler und Offiziere, deren Kabinen im hinteren Schiff lagen. (vgl. Krause, 2011, p. 109).
Seelheim erwähnte das Fest in seinem offiziellen Bericht, obwohl er das Schiff bereits am 30. Juli verlassen hatte. Am letzten Abend vor der Weiterfahrt hatten sie nämlich ihre Landsleute zu einer kleinen Festlichkeit an Bord einladen dürfen (Seelheim in Filchner, 1922, p.45).
Am 2. August brachen sie nach Buenos Aires auf. Unterwegs sollten weitere ozeanographische und biologische Untersuchungen durchgeführt werden. Insbesondere wollte Brennecke den Übergang vom warmen Brasilstrom zum kalten Falklandstrom erforschen. Allmählich lagen die Nerven blank. Kohl sah die ersten Missstimmungen an Bord aufkommen (Kohl in Renner, 1991, p. 71). Das kann man auch Heinrichs Tagebuch entnehmen, indem er von neun geschlachteten Hühnern berichtete, die jedoch nicht der Mannschaft zugutekamen. Sie erhielt zum Frühstück nur Reis mit Curry aus Dosenfleisch, während die Herren im Salon, d.h. die Wissenschaftler und Offiziere Spiegeleier und Schinken hatten, „wir können auch keine vertragen“ war Heinrichs sarkastischer Kommentar (Heinrich, 5.8.1911). An den folgenden Tagen wurden immer wieder Hühner geschlachtet, die nun wohl für alle zu den Mahlzeiten zubereitet wurden.
Das Einerlei der Tage wurde erneut durch eine interessante Untersuchung unterbrochen. Heinrich beschrieb, dass um 11:00 Uhr das große Boot mit dem Ozeanographen Brennecke, dem 1. Steuermann und zwei Matrosen ausgesetzt und auf 3400 m verankert wurde. Bis um 17:00 Uhr wurde in verschiedenen Tiefen der Strom gemessen, was eine wichtige Sache gewesen sei. In der Zwischenzeit fingen Heinrich und seine Kameraden drei Haie, von denen der eine 2 m lang war. Heinrich präparierte ein Haigebiss für den 3. Steuermann Slossarczyk.
Beim nächsten schlechten Wetter ging mehrfach ein ordentlicher Wasserguss bis in Heinrichs Gemeinschaftsunterkunft hinunter, so dass die dort Wohnenden zutiefst bedauernswert waren. Zudem war die Luft dort wieder sehr schlecht, da wegen des Sturmes alle Luken geschlossen sein mussten. Die Wissenschaftler auf dem Halbdeck, wo kein Wasser hinkäme, hätten es gut. „Die wissen wirklich nichts davon von schlechtes Wetter.“ (Heinrich, 14.8.1911). Auch würde die richtige Einstellung gegenüber der Tierwelt fehlen, denn eines Tages wunderte sich Heinrich sehr über die Grausamkeit, als einem gefangenen Hai erst der Schwanz abgehackt wurde, bevor er dann wieder über Bord geworfen wurde.
Bei einer erneuten Wägung der Expeditionsteilnehmer blieb Heinrich mit 96 kg weiterhin der Schwerste an Bord, weil ihm aber seiner Meinung nach auch das Essen sehr gut schmeckte. Immer wieder wurde er nun als Metzger herangezogen. Diesmal musste ein Puter geschlachtet werden, dem später noch drei weitere folgen sollten. Als Heinrich später große Zeugwäsche machte, notierte er große Schmerzen im Rücken. Die viele Arbeit machte sich im Lauf der Zeit bemerkbar.
Das Loten und Fischen ging routinemäßig weiter. Ein neues Ereignis war der Start eines kleinen Ballons von einem Meter Durchmesser, mit dem der Wind in den oberen Luftschichten gemessen werden sollte. Diese Pilotballone wurden bei ihrem Aufstieg durch den Passat zunächst nach Westen getrieben, änderten dann mit der Höhe aber die Richtung, bis sie mit dem Antipassat wieder nach Osten flogen (Ule, 1924, p. 103).
Heinrich hatte sich als Metzger bewährt und sollte am nächsten Tag ein schwarzes Schwein schlachten, das sie in Pernambuco erhalten hatten (Heinrich, 23.8.1911). Das Fleisch war jedoch sehr fett und deshalb weniger schmackhaft.
Als am selben Tag ein Matrose einen ernsthaften Krach mit dem 1. Maschinisten (Conrad Heyneck, Lebensdaten unbekannt) hatte, notierte Heinrich: „Emil Pfeil hatte ein bösen Krach mit dem 1. Maschinist, weil er sich eher waschen wollte, als seine Zeit nun war. Er ist in Journal geschrieben.“ (Heinrich, 23.8.1911). Heinrich beklagte diesen „bösen Betrieb“ sehr. „Solche empfindlichen Vorgesetzten gehören hier nicht her“ war sein abschließendes Urteil zu diesem Vorfall (Heinrich, 23.8.1911).
Insgesamt herrschte unter den „Herren“, wie Heinrich die Offiziere und Wissenschaftler nannte, keine Einigkeit. Es ging sogar das Gerücht, dass Kapitän Vahsel in Buenos Aires, wo der Expeditionsleiter Filchner schließlich zu ihnen stoßen würde, nach Hause fahren wollte. Filchners Stellvertreter Seelheim würde gar nicht mehr mit dem Kapitän reden. „Wie es scheint, ist die Expedition verpfuscht.“ (Heinrich, 24.8.1911). Das Leben bei Schlechtwetter in der „Pestluft“ der Schlafräume wurde auch nicht besser.
Dann wurde es allmählich kühler an Deck. Wieder wurde eine alte Tiefenmessung von 132 m aus dem Jahr 1865 nachgemessen und stattdessen eine Tiefe von 5000 m festgestellt. Tage später hielt Heinrich fest, wie auf einer Breite von 40∘ Süd die Wassertemperatur im kalten Falklandstrom auf 5,3 ∘C abnahm. Kurz vor Buenos Aires schlachtete Heinrich das letzte Schwein. Am 5. September hielten sie in Anfahrt auf Buenos Aires auf Montevideo zu. Mit diesem Datum brach das Tagebuch des Zimmermanns Heinrich ab.
Nachdem sie rund 100 Stationsmessungen durchgeführt hatten, erreichte die Deutschland nach 10 000 Seemeilen am 7. September 1911 Buenos Aires (Filchner, 1922, pp. 45–46). Hier verließen neben dem Zoologen Lohmann, der nur den ersten Fahrabschnitt auf dem Atlantik hatte begleiten wollen, auch zwei Matrosen, ein Stewart sowie der Zimmermann Heinrich das Schiff. Seine Abmusterung erfolgte am 13. September 1911 vom Seemannsamt im Kaiserlich Deutschen Generalkonsulat in Buenos Aires (Privatbesitz Vollmer). Die Begründung dafür gab Vahsel in einem Brief an Hans Gazert, den Expeditionsarzt der Gauss, dem er kurz vor Abfahrt aus Buenos Aires an Bord der Deutschland noch einen Brief schrieb, denn er hatte ihn als Leiter einer eventuellen Hilfsexpedition für die Deutschland vorgeschlagen. „Heinrich haben wir wegen Klatschereien leider hinaustun müssen.“ (Vahsel, 1911). Offenbar hatte Heinrich immer deutlich seine Meinung gesagt, insbesondere wenn etwas nicht wie üblich sondern in seinen Augen im Vergleich mit der Gauss-Expedition seltsam ablief. Mehr über die sozialen Verhältnisse an Bord der Deutschland während der Weiterreise in die Antarktis hat Reinhard Krause 2011 beschrieben (Krause, 2011).
Erst am 30. Mai 1913 stellte Filchner Heinrich ein Zeugnis aus, in dem er betonte, dass sein Stellvertreter Dr. Seelheim und Kapitän Vahsel ihm wiederholt berichtet hätten, dass Heinrich „ein sehr gewandter Arbeiter und überhaupt gewandter Mann ist. Heinrich war mit Leib und Seele von Anfang an bei der Deutschen Antarktischen Expedition und hat der Expedition wertvolle Dienste geleistet.“ (Filchner, 1913).
Nach seiner Rückkehr aus Buenos Aires wollte Heinrich wohl endlich sesshaft werden und fand eine neue Aufgabe, indem er nun in Hamburg eine Wirtschaft betrieb (Vollmer, o.D.). Infolge der Mobilmachung in Zuge des Ersten Weltkrieges wurde Heinrich in die 5. Kompanie II. Werftdivision einberufen. Als Zimmermannsmaat entsprechend dem Rang eines Unteroffiziers wurde er 1918 entlassen. Nach einigen kleinen Zwischenstationen führte er von 1921 bis zu seinem Tod im Jahr 1952 das Schlachthofrestaurant in der Hamburger Kampstr. 44–46.
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Die Autorin ist Editorin bei Polarforschung. Sie erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Mein herzlicher Dank geht an Peter Vollmer in Hamburg, der mir das Typoskript des Tagebuches seines Großvaters Wilhelm Heinrich und weitere Unterlagen wie Fotos und Zeugniskopien für diesen Artikel zur Verfügung gestellt hat. Ebenso gebührt mein Dank Erich Joester für die Abbildungen aus dem Barkow-Nachlass. Darüber hinaus danke ich Diedrich Fritzsche und dem anonymen Gutachter für ihre Hinweise, mit denen das Manuskript noch interessanter gestaltet werden konnte.
Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten und institutionellen Zugehörigkeiten neutral.
Dieser Artikel wurde von Rainer Lehmann redaktionell betreut und durch Diedrich Fritzsche und eine:n anonyme:n Expert:in begutachtet.
Björvig, P.: Oplevelser i Nord og Sydishavet ov Paul Bjørvig 1871–1911, Norsk Polarinstitutt, Tromsø, Dagbøker DAG-008-2, 1917, zitiert aus der Übersetzung im Nachlass Paul Björvig, Alfred-Wegener-Institut Helmholz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven, NL 15, 1917.
Brennecke, W.: Die ozeanographischen Arbeiten der Deutschen Antarktischen Expedition. Teil I. Kanal – Azoren, Annalen der Hydrographie und Maritimen Meteorologie, 7, 350–353, 1911.
Brennecke, W.: Die ozeanographischen Arbeiten der Deutschen Antarktischen Expedition 1911–1912, Archiv der Deutschen Seewarte, 39, 1–192, 1921.
Drygalski, E. von: Zum Kontinent des eisigen Südens. Die erste deutsche Südpolarexpedition 1901–1903, Georg Reimer, Berlin, 1904.
Filchner, W.: Zeugnis, Privatbesitz, Peter Vollmer, Hamburg, 13.5.1913.
Filchner, W.: Zum sechsten Erdteil, Ullstein, Berlin, 1922.
Heinrich, W.: Zweite Deutsche Antarktisexpedition 1911–12, Typoskript des Tagebuches von Wilhelm Heinrich, I. Zimmermann, Privatbesitz Peter Vollmer, Hamburg, 1911.
Joester, E.: Nachlass Erich Barkow, Privatbesitz, Erich Joester, Bremen, o.D.
Krause, R. A.: Zum hundertjährigen Jubiläum der Deutschen Antarktischen Expedition unter der Leitung von Wilhelm Filchner, 1911–1912, Polarforschung, 81, 103–126, https://doi.org/10.2312/polarforschung.81.2.103, 2011.
Renner, E. (Hrsg.): Ludwig Kohl-Larsen – der Mann, der Lucy's Ahnen fand, Lebenserinnerungen und Materialien, Landau/Pfalz, Pfälzische Verlags-Anstalt, 1991.
Ule, W.: Quer durch Süd-Amerika, Otto Quitzow-Verlag K.-G., Lübeck, 1924.
Vahsel, R.: Brief an Hans Gazert vom 25.9.1911, Leipzig, Archiv für Geographie, Leibniz-Instituts für Länderkunde, Signatur 1027/83-84, 1911.
Vollmer, P.: Nachlass Wilhelm Heinrich, Privatbesitz, Peter Vollmer, Hamburg, o.D.
Wikipedia: Kronprinzessin Cecilie (Schiff), https://de.wikipedia.org/wiki/Kronprinzessin_Cecilie_(Schiff), letzter Zugriff: 17. Februar 2023.
Deutschlandemerges for the first time, about which Filchner's official voyage report says little.