Articles | Volume 89, issue 1
https://doi.org/10.5194/polf-89-97-2021
https://doi.org/10.5194/polf-89-97-2021
Review on polar literature
 | 
20 May 2021
Review on polar literature |  | 20 May 2021

Buchrezension: Starvation Shore

Cornelia Lüdecke
Dates

Waterman, L.: Starvation Shore, The University of Wisconsin Press, Madison, Wisconsin, 364 pp., ISBN 9780299323400, EUR 28.00, 2019.

Während des ersten Internationalen Polarjahres (1882–1883) verabredeten zehn Länder, in der Arktis zwölf Stationen einzurichten, um gleichzeitig meteorologische und magnetische Messungen durchzuführen. Bereits im August 1881 wurde in der Lady Franklin Bay auf Ellesmere Island (Kanada) die amerikanische Station unter der Leitung von Oberleutnant Adolphus Greely (1844–1935) eingerichtet. Mit rund 82 N war Fort Conger die nördlichste Station, wo sie ihr Wohnhaus und die Observatorien aus vorgefertigtem Material errichteten. Neben den verabredeten Messungen konstruierten sie einen zuverlässigen Flutmesser und untersuchten die Schwerkraft. Außerdem unternahmen einige Expeditionsmitglieder gewagte Exkursionen in die Umgebung und näherten sich dem Nordpol wie nie zuvor. Leider blieben die jährlichen Versorgungsfahrten aus. Anstatt in Fort Conger zu warten, wo genügend Nahrung bis zum nächsten Jahr vorhanden war, zogen sie Anfang August 1883 trotz mangelnder Polarerfahrung unter großen Mühen zum rund 400 km südlich gelegenen Kap Sabine im Smithsund. Dort waren jedoch die ursprünglich für alle Notfälle verabredeten Depots nie angelegt worden. So verbrachten sie an diesem Ort die dritte Überwinterung unter erbärmlichsten Umständen. Als die Rettungsexpedition schließlich im Juni 1884 eintraf, bot sich ein Bild des Grauens. Von den ursprünglichen 25 Expeditionsmitgliedern, darunter sieben Deutsche bzw. Deutschstämmige, waren nur noch sieben am Leben. Die meisten waren verhungert oder an Skorbut gestorben. Einer war sogar wegen Lebensmitteldiebstahl vor den Augen der anderen exekutiert worden. Aber das Schlimmste bot sich, als die Rettungsmannschaft die Toten sah, denn sie zeigten Spuren von Kannibalismus. Nur sechs Männer kehrten schließlich lebend in die Heimat zurück. Trotz dieses Desasters wurde Greely befördert, da seine Expedition wertvolle wissenschaftliche Daten von der polnächsten Station zurückbrachte. Dies sind die bekannten Fakten, wie sie auch in der ersten Auflage von Barrs Übersicht über das erste Internationale Polarjahr im Jahr 1985 beschrieben wurden (Barr, 1985/2008).

Das vorliegende Buch, das die Geschehnisse dieser Expedition in Romanform nachzeichnet, geht vor allem der Frage nach, wie es unter zivilisierten Menschen zur Exekution eines Kameraden und gar zu Kannibalismus kommen konnte. Die Analyse basiert auf erstmals zusammen ausgewerteten Originalquellen der Expedition, die einige Teilnehmer hinterlassen haben. Da sind zu nennen die Briefe des Expeditionsleiters Greely an seine geliebte Frau, in denen er seine Gedanken niederschreib, frustriert über seine Expedition berichtete und seine Maßnahmen rechtfertigte. Der von allen geachtete Feldwebel David Brainard beschrieb in seinem Tagebuch das Wetter und das tägliche Leben. Außerdem hielt er seine Meinung über die anderen Expeditionsteilnehmer fest. Der Gefreite Charles Henry, der stärkste und hungrigste von allen, machte hingegen nur sporadische Notizen. Ein weiteres Tagebuch wurde von Unterleutnant James Lockwood überliefert, der an dieser Expedition teilnahm um seine Lust auf Abenteuer zu befriedigen. Alle Originalquellen bieten einen Einblick in den Charakter der beteiligten Männer. Die nicht überlieferten Briefe des polarerfahren Arztes Octave Pavy hingegen sind aus dramaturgischen Gründen alle erfunden wurden. Sie orientieren sich jedoch an den Äußerungen in den anderen Quellen.

Der Autorin Laura Waterman gelingt es nun, sich in die historische Expedition hineinzudenken und die Geschehnisse anhand der in den Archiven vorgefundenen Schriftstücke einfühlsam und möglichst authentisch zu interpretieren. Hier macht sich bemerkbar, dass die Autorin unglaublich viel Expeditionsberichte und Abenteuerromane gelesen hat und aufgrund ihrer eigenen Erlebnisse bei Klettertouren im extremen Winterwetter die Ereignisse der amerikanischen Polarexpedition zu einer packenden Geschichte mit historisch-korrektem Anspruch in Romanform zusammenbringt. Dabei wechselt sie die Wiedergabe der Expeditionsgeschichte mit erfundenen Briefen und Tagebuchauszügen ab, die in einer anderen Schrift gedruckt sind und dazu dienen, den Fortlauf der Ereignisse durch die fiktive Reflexion der Teilnehmer besser nachvollziehen zu können. Die darin manchmal verwendeten Originalzitate werden allerdings nicht gekennzeichnet, um die Romanform nicht zu stören. Waterman hält sich nach eigenen Aussage jedoch in all diesen fiktiven Quellen und Auszügen an die tatsächlich schriftlich fixierten historischen Tatsachen.

Die Zusammenstellung ist schlüssig und sehr spannend zu lesen. So werden nicht nur die Empfindungen der Männer bei großer Kälte und das Dahinvegetieren wegen mangelnder Nahrung beschrieben, sondern auch die Stimmung im Zelt bis hin zu den Gerüchen, die sich bei Skorbut und Durchfall wegen schlecht verdaulicher Nahrung aus Moosen oder Algen zwangsläufig einstellen, wenn man zu schwach ist um das Zelt zu verlassen. Dazu kommen die endlosen Gespräche über Essen, Lieblingsgerichte und Kochrezepte. Die Autorin schafft dadurch ein unglaublich authentisches Bild der hoffnungslosen Situation, in die alle durch ihren unerfahrenen Leiter gebracht wurden. Darüber hinaus zeichnet Waterman schon zu Beginn der Expedition die Probleme auf, die Greely durch die militärische Organisation der Expedition mit den zivilen Mitgliedern wie dem Arzt gab, der sich nichts befehlen ließ. Die Entlassung des zweiten Unterleutnants wegen Ungehorsams erleichterte die Situation auch nicht, denn er musste ja weiter mitversorgt werden. Dem Leser offenbart sich allmählich, wie die Männer untereinander in Beziehungen stehen und er nimmt daran teil, wie sich die Spannungen während der ersten Überwinterung bis zur Krise langsam aufbauen und schließlich im Desaster enden. Alles hängt an Greely, der offensichtlich keine guten Entscheidungen fällt, aber um sich durchzusetzen harte Maßnahmen ergreift. Allein schon dieser soziologische Aspekt ist neben dem psychologischen höchst interessant. Die persönliche Meinung der Autorin über die Ereignisse wird in ihrem letzten Kapitel, dem „Afterword“ deutlich, in dem Greely und Brainard am 46. Jahrestag ihrer Rettung im Jahr 1930 einige Erinnerungen Revue passieren lassen. Ich hätte nicht gedacht, dass mich dieser Sachroman derartig in den Bann zieht. Das wird wohl der darin geschaffenen Wirklichkeitsnähe geschuldet sein. Ich kann ihn wirklich jedem empfehlen, der sich mit diesem besonderen Kapitel der Polargeschichte beschäftigen möchte.

Begutachtung

This paper was edited by Bernhard Diekmann.

Literatur

Barr, W.: The American Expedition to Lady Franklin Bay, in: The Expeditions of the First International Polar Year 1882–1883, Technical Report No. 29, 1st edn., The Arctic Institute of North America, Calgary, Alberta, Canada, 6–34, 2nd edn., 11–62, 1985/2008.