Articles | Volume 92
https://doi.org/10.5194/polf-92-1-2024
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Report for the polar community
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15 Feb 2024
Report for the polar community |  | 15 Feb 2024

Auf den Spuren von Erich von Drygalski am Großen Karajak-Gletscher in Grönland

Reinhard Dietrich, Christoph Knöfel, Mirko Scheinert, and Ralf Rosenau
Kurzfassung

Erich von Drygalski führte in den Jahren 1891 und 1892/93 gemeinsam mit dem Biologen Ernst Vanhöffen umfangreiche Forschungsarbeiten in Westgrönland durch, wobei zur Überwinterung eine Forschungsstation am Großen Karajak-Gletscher errichtetet wurde. An gleicher Stelle erfolgten durch eine Gruppe der Technischen Universität Dresden 2007 und 2019 geodätische Feldarbeiten. Im Beitrag werden das Areal der damaligen Station sowie die geodätisch-glaziologischen Forschungsarbeiten Erich von Drygalskis vorgestellt. Ein Vergleich mit heutigen Messungen zeigt, dass sich der Große Karajak-Gletscher in 120 Jahren kaum verändert hat.

Abstract

In 1891 and in 1892/93 Erich von Drygalski, together with the biologist Ernst Vanhöffen, carried out extensive research work in west Greenland. In this context a wintering station next to the glacier “Großer Karajak-Gletscher” was established. At the same place a group of the TU Dresden performed geodetic field work in 2007 and 2019. In the following we introduce the area of Drygalski's station and his geodetic-glaciological research work. A comparison with recent observations reveals that the glacier “Großer Karajak-Gletscher” has not changed for 120 years.

1 Einleitung

Im Sommer 2007 führte eine Gruppe der TU Dresden geodätisch-glaziologische Feldarbeiten an Ausflussgletschern in Westgrönland durch. Diese Forschungen waren auch ein Teilbeitrag des Projektes MARGINS im Internationalen Polarjahr 2007/2008. Einer der untersuchten Gletscher war der Große Karajak-Gletscher im Uummannaq-Fjord. Zu diesem Zweck wurde in der Nähe der Gletscherfront für einige Tage ein Feldlager errichtet. Schon am zweiten Tag im Feldlager wurden auf dem Boden gleich neben den Zelten zwei regelmäßige, etwa 3 m × 4 m große Rechtecke aus Felsbrocken erkannt. Dass hier einmal zwei Hütten oder Ähnliches gestanden haben mussten, lag auf der Hand. Aber zunächst fand sich keine Erklärung dafür.

Erst Jahre später, als Cornelia Lüdecke in verdienstvoller Weise Drygalskis Bericht über seine Grönlandexpeditionen herausgab (Lüdecke2015), und dann im nachfolgenden Gespräch mit ihr, folgte die Erkenntnis, dass sich unsere Gruppe buchstäblich auf den Spuren von Erich von Drygalski am Großen Karajak-Gletscher bewegt hatte. Selbst die damals schon zu unserer Ausstattung gehörende topographische Karte, in der eine „Drygalskis Halvø“ auf der anderen Fjordseite ausgewiesen war (siehe Abb. 1), hatte uns nicht auf diese Spur gebracht.

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Abb. 1Das Arbeitsgebiet von Erich von Drygalski am Großen Karajak-Gletscher in einer topographischen Karte von 1980 (Geodætisk Institut, Kopenhagen), Maßstab 1:250 000. Der Große Karajak-Gletscher bei Drygalski heißt hier „Store Gletscher“. Das kleine Fenster zeigt den Ausschnitt von Abb. 3. [The research area of Erich von Drygalski next to the “Großer Karajak-Gletscher” in a topographic map (Geodætisk Institut, Copenhagen, 1980), scale 1:250 000. In this map the “Großer Karajak-Gletscher” is named “Store Gletscher”. The blue rectangle denotes the detail shown in Fig. 3.]

Bei einer erneuten Messkampagne 2019 wurde die Örtlichkeit wieder aufgesucht, und wir konnten noch einmal gezielter die Bildperspektiven erkunden, die in den Fotos von Drygalskis Expedition erkennbar waren.

2 Erich von Drygalski am Großen Karajak-Gletscher

Finanziert durch die Gesellschaft für Erdkunde in Berlin und nach einer Vorexpedition im Jahre 1891 errichtete Erich von Drygalski zusammen mit seinem Freund und Kollegen Ernst Vanhöffen 1892 eine Überwinterungsstation am Großen Karajak-Gletscher (siehe auch Lüdecke1992), mit tatkräftiger Hilfe der örtlichen Verwaltung sowie der Bewohner von Uummannaq und von Ikerasak, der nächstgelegenen grönländischen Siedlung (Abb. 2). Das Haus wurde im August 1892 gebaut, in der Nähe wurden des Weiteren ein Lagerhaus und eine Unterkunft für eine Grönländer-Familie, die den ganzen Winter an der Station blieb, errichtet.

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Abb. 2Die Siedlung Ikerasak existiert auch heute noch (Foto von 2007). Von hier erhielt Erich von Drygalski seinerzeit vielfältige Unterstützung bei seinen Forschungsarbeiten (Foto: Reinhard Dietrich). [The settlement Ikerasak still exists today (photo from 2007). From here Erich von Drygalski got much support during his research activities (photo: Reinhard Dietrich).]

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An der Station selbst wurde ein umfangreiches, kontinuierliches meteorologisches Messprogramm begonnen. Von dieser Basis aus führten Drygalski und Vanhöffen weiterhin umfangreiche Feldarbeiten in der Umgebung der Station durch, wobei für Drygalski als Geograph und Glaziologe Untersuchungen des Eises und speziell des Großen Karajak-Gletschers einen Schwerpunkt bildeten. Vanhöffen als Biologe untersuchte Flora und Fauna, wobei er seine Forschungen durch umfangreiche Sammlungen und Zeichnungen ergänzte. Beim Studium der Berichte der Expedition (von Drygalski et al.1897a, b; Lüdecke2015) beeindrucken die Breite, Tiefe und Exaktheit der durchgeführten Forschungen bis heute, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Untersuchungen von nur zwei Personen durchgeführt wurden. Drygalski und Vanhöffen haben ein unglaubliches Arbeitspensum sowohl in Grönland als dann auch bei der Aufbereitung des gewonnenen Forschungsmaterials und dessen Publikation bewältigt!

3 Die Station und ihre Umgebung – damals und heute

Bereits während der Vorexpedition 1891 hatte Erich von Drygalski den Großen Karajak-Gletscher und seine Umgebung gründlich erkundet. Er stellte fest, dass vom Kleinen Karajak-Fjord aus einerseits gut angelandet werden konnte und andererseits nach einem Aufstieg auf den Nunatak eine hervorragende Sicht und auch Zugang auf den Großen Karajak-Gletscher gegeben waren (von Drygalski1891). So war die Örtlichkeit für den Stationsbau von Drygalski sorgfältig ausgewählt.

Der Kartenausschnitt der Stationsumgebung (Abb. 3) korrespondiert mit dem Blick vom „Windfahnen-Berg“ auf diesen Bereich (Abb. 4). Es wird deutlich, dass weite Teile des Ufers durch steile, unzugängliche Felswände gebildet werden. In Abb. 5 ist das Stationsareal mit der Anlegestelle erfasst. Man erkennt auch den Bachlauf, der Richtung Fjord durch das Stationsgelände verläuft. In Abb. 6 blickt man auf das Stationsgebiet in Richtung Südwesten. In den Abb. 7 und 8 sind sehr wahrscheinlich die Überreste des Lagerhauses und des Grönländerhauses zu erkennen. Es ist durchaus üblich, solche Bauwerke außen mit einem Stein- oder Erdwall zu umgeben. Das steigert ihre Stabilität und isoliert das Innere. Drygalski beschreibt in seinem Bericht die beiden Gebäude und ihre Lage so: „Im Sommer durch ein Bächlein, jetzt im Winter durch einen breiten Glatteisstrom, der den Weg zum Fjord häufig genug auch unfreiwillig verkürzt, stehen das Lagerhaus und das Grönländerhaus von unserm Hause getrennt“. Im Grönländerhaus lebten während der Expedition in der Regel 9 Personen, 6 Erwachsene und drei Kinder (von Drygalski1893), siehe auch (Lüdecke2015, S. 163).

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Abb. 3Ausschnitt aus der Kartenskizze von Drygalski mit der Stationsumgebung (von Drygalski et al.1897b). [Detail of the map by Drygalski showing the surroundings of the station (von Drygalski et al.1897b).]

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Abb. 4Blick von Süden auf die Umgebung von Drygalskis Station, aufgenommen vom Nordhang der von Drygalski „Windfahnen-Berg“ genannten Erhebung mit der Höhenangabe 341 m (siehe Abb. 3). Der Bereich der Station (Abb. 5) ist markiert (Foto: Reinhard Dietrich). [View from the south to the surroundings of Drygalski's station, taken from the northern slope of the “Windfahnen-Berg” which was assigned a height of 341 m (see Fig. 3). The area of the station (Fig. 5) is highlighted (photo: Reinhard Dietrich).]

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Abb. 5Das Areal der Überwinterungsstation (Ausschnitt aus Abb. 3). Unten die Anlandestelle, links der Standort des Winterhauses und rechts die Lage von Lagerhaus und Grönländerhaus. In der Bildmitte ist der kleine Bachlauf zu erkennen (Foto: Reinhard Dietrich). [The area of the wintering station (detail of Fig. 3). The following locations can be identified: The landing site for ships (at the bottom), the position of the winter house (left) and the position of the storehouse and the Greenlander’s house (right). In the center of the photograph the small stream is visible (photo: Reinhard Dietrich).]

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Abb. 6Stationsareal (Blickrichtung Südwest) mit den Positionen von Stationshaus (gelb, rechts), Grönländerhaus und Lagerhaus (gelb, links) sowie Zelten der Expedition von 2007 (blau) (Foto: Reinhard Dietrich). [Station area (view to southwest) with the positions of the station house (yellow, right), Greenlander‘'s house and storehouse (yellow, left) and tents of the expedition in 2007 (blue) (photo: Reinhard Dietrich).]

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Abb. 7Steinviereck, das wohl den Platz von Grönländerhaus oder Lagerhaus markiert. Im Hintergrund rechts der Felsrücken, auf dem die Winterstation stand. Im Tal dazwischen ein Bachlauf, am Grün der Vegetation gut zu erkennen (Foto: Reinhard Dietrich). [Quadrangular set of stones, probably marking the site of the Greenlander‘s house or of the storehouse. In the background the ridge can be seen where the station house was located. In the middle the small stream can be identified by the green vegetation (photo: Reinhard Dietrich).]

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Abb. 8Das zweite Steinviereck neben demjenigen aus Abb. 7 (Foto: Reinhard Dietrich). [The second quadrangular set of stones next to that of Fig. 7 (photo: Reinhard Dietrich).]

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In Abb. 9 ist das Überwinterungshaus zu sehen. Es steht auf der anderen Seite des kleinen Tales. Im Vordergrund sieht man nicht nur Wäsche auf der Leine, sondern links davon möglicherweise Teile des im Bau befindlichen Lager- oder Grönländerhauses. Das aus heutiger Zeit stammende Foto mit nahezu gleichem Standort (Abb. 10) zeigt nicht nur im Vordergrund den steinernen Grundriss dieses Lager- oder Grönländerhauses, sondern auch an der Stelle der Überwinterungsstation eine noch sichtbare Steinreihe. Dass auch dieses Haus durch einen Erd- bzw. Steinwall umgeben wurde, ist in Abb. 11 gut zu erkennen.

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Abb. 9Die Überwinterungsstation von Drygalski 1892/93, Blickrichtung nach Westen (Leibniz-Institut für Länderkunde, Archiv für Geographie, Leipzig). [The station house (wintering house) of Drygalski in 1892/93, view to the west (Leibniz-Institut für Länderkunde, Archiv für Geographie, Leipzig).]

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Abb. 10Die gleiche Perspektive wie in Abb. 9 im Jahr 2019. Auch hier ist die Position des Hauses noch anhand einer Steinreihe erkennbar (Pfeil). Links neben dem großen Stein ist der Grundriss (Abb. 7) der in Abb. 9 im Bau befindlichen Hütte zu erkennen (Foto: Christoph Knöfel). [The same perspective as in Fig. 9 in the year 2019. The location of the wintering house can still be identified by an alignment of stones (arrow). To the left of the big stone one can see the quadrangular set of stones (Fig. 7) of the house which is under construction in Fig. 9 (photo: Christoph Knöfel).]

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Abb. 11Die Station mit Blickrichtung nach Norden. Man erkennt einen Erd- bzw. Steinwall rund um das Haus (Leibniz-Institut für Länderkunde, Archiv für Geographie, Leipzig). [The station with view to the north. A soil and stone wall around the house is clearly visible (Leibniz-Institut für Länderkunde, Archiv für Geographie, Leipzig).]

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Abb. 12Anlandung der Expedition von Drygalski (Leibniz-Institut für Länderkunde, Archiv für Geographie, Leipzig). [Landing of Drygalski’s expedition (Leibniz-Institut für Länderkunde, Archiv für Geographie, Leipzig).]

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Abb. 13Die alte Anlandestelle (Vordergrund) ist auch heute (2019) noch der beste Platz, um hier an Land zu gelangen. Das Schiff liegt etwas entfernt auf Warteposition (Foto: Christoph Knöfel). [Also today (2019) the landing site (foreground) is the best place to come ashore. The ship is anchored in a somewhat distant position (photo: Christoph. Knöfel).]

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In den Abb. 12 und 13 ist die Anlandestelle zu sehen. Es gibt in der Nähe keine andere so gut geeignete Möglichkeit, an Land zu kommen und dann von der Landseite aus zum Großen Karajak-Gletscher zu gelangen.

4 Erich von Drygalski und die Geodäsie

Während der Forschungsarbeiten hat Erich von Drygalski auch ein umfangreiches Pensum an geodätischen Arbeiten absolviert. Neben den praktischen Messungen zur Erstellung einer äußerst detailreichen Karte des Arbeitsgebietes (Abb. 14) hat er unter anderem astronomische Messungen zur Bestimmung von Breite und Länge der Überwinterungsstation sowie relative Schweremessungen mittels Pendelapparat durchgeführt (von Drygalski et al.1897a, b).

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Abb. 14Die von Drygalski angefertigte Karte des Arbeitsgebietes (von Drygalski et al.1897b). [The map of the working area created by von Drygalski (von Drygalski et al.1897b).]

Man wird sich fragen, wo Erich von Drygalski als studierter Geograph das geodätische Fachwissen und auch die Fertigkeiten des praktischen Vermessungshandwerks erworben hat. Schon mit seiner Dissertation „Die Geoiddeformationen der Eiszeit“ (von Drygalski1887) hatte er sich in geodätische Bereiche begeben. Angeregt durch wissenschaftliche Arbeiten von Friedrich Robert Helmert, des Direktors des Preussischen Geodätischen Institutes zu Berlin, hat er in der Promotion unter anderem die anziehende Wirkung kontinentaler Eismassen auf den Meeresspiegel untersucht (Kick1971). Helmert war auch einer der Gutachter dieser Promotion. Drygalski verteidigte sie am 6. Juli 1887, im Alter von erst 22 Jahren.

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Abb. 15Der Frontbereich des Großen Karajak-Gletschers im Jahr 1892 (von Drygalski et al.1897a). [The glacier front of the “Großer Karajak-Gletscher” in the year 1892 (von Drygalski et al.1897a).]

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Abb. 16Der Große Karajak-Gletscher im Jahr 2007 (Foto: Reinhard Dietrich). [The glacier “Großer Karajak-Gletscher” in the year 2007 (photo: Reinhard Dietrich).]

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Ab Oktober 1888 war Erich von Drygalski am Geodätischen Institut beschäftigt, und in den Jahresberichten erfährt man auch, an welchen Aufgaben er dort gearbeitet hat. So kann man lesen: „Außerdem waren mit Berechnungen beschäftigt die Herren … Dr. von Drygalski …“ (Helmert1889, 1890, 1891). Diese Berechnungen umfassten sowohl die Auswertung astronomischer als auch gravimetrischer Messungen. Weiterhin findet man für die Sektion von Prof. Fischer, der nur Erich von Drygalski und ein Dr. Simon angehörten, folgende Aussage: „Die hauptsächliche Leistung der Sektion im verflossenen Jahre bestand in der Ausgleichung des neuen Berliner Basisnetzes und seiner Verbindung mit der Seite Hagelsberg-Golmberg der Hannoversch-Sächsischen Kette der Landesaufnahme“. Außerdem wird berichtet: „Nächst diesen Arbeiten ist von der Sektion auch an der Reduktion der trigonometrischen Höhenmessung Schillig-Wangeroog-Rother Sand gearbeitet worden. Herr Dr. von Drygalski hat ausserdem an den Berechnungen für die Reduktion der in den Alpen beobachteten Schwerkraftswerthe auf horizontales Terrain theilgenommen, sowie eine Karte des preussischen Theils der Struve'schen Längengradmessung gezeichnet und eine Zusammenstellung der neuen telegraphischen Längenbestimmungen des Instituts für die Internationale Erdmessung gefertigt“. (Helmert1890). Auch Feldarbeiten hoher Präzision gehörten zu Drygalskis Tätigkeiten: „Die Feldbeobachtungen im Sommer 1890, ausgeführt von Prof. Fischer unter Assistenz von Dr. von Drygalski, betrafen die Bestimmung von Breite und Azimut auf den Dreieckspunkten 1. Ordnung Luckow und Hutberg der Küstenvermessung bzw. der Märkisch-Schlesischen Kette, in der weiteren Umgebung von Berlin“. (Helmert1891). Seine Pläne für die Grönlandexpedition finden folgenden Niederschlag in diesem Jahresbericht: „Im September war Dr. von Drygalski auf 3 Wochen zu einer Reise nach der Schweiz behufs Informationen für seine Grönlandreise beurlaubt“. und schließlich etwas lakonisch: „Herr Dr. von Drygalski hat mit Ende März d. J. das Institut verlassen, um eine den Eisverhältnissen Grönlands gewidmete Studienreise anzutreten“.

5 Der Große Karajak-Gletscher – Drygalskis Messungen und heutige Ergebnisse

Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die ganze Breite der wissenschaftlichen Pionierarbeit, die Drygalski während der Expedition in Grönland geleistet hat, entsprechend zu würdigen. Ein wirklich beeindruckendes Produkt seiner Arbeit ist die von ihm erstellte Karte des Arbeitsgebietes (Abb. 14). Es muss ein Riesenaufwand gewesen sein, alle in der Karte erfassten topographischen Merkmale mit Theodolit und Messband bzw. Messlatte präzise in ihrer Position zu bestimmen. Grundlage dafür war die Vermessung von auf Fels angelegten Festpunkten. Ein Vergleich mit heutigen Satellitenaufnahmen bestätigt die Genauigkeit und den Detailreichtum seiner Karte. Der Vergleich der Karte mit Satellitenaufnahmen sowie der Vergleich von Fotoaufnahmen (Abb. 15 und 16) bestätigen, dass sich die Lage der Gletscherfront nach 120 Jahren nahezu unverändert zeigt. Ein Grund dafür ist sicherlich die Tatsache, dass die Subglazialtopographie in Frontnähe gletscheraufwärts stark ansteigen dürfte, wie aus der Oberflächentopographie (siehe Abb. 14) zu schließen ist. Damit führen mögliche Änderungen der Eisdicke nur zu sehr geringen Änderungen der Lage der Gletscherfront, an der das Eis aufschwimmt und kalbt.

Auf dem Großen Karajak-Gletscher (Abb. 15 und 16) hat Drygalski Messungen zur Bestimmung der Fließgeschwindigkeit durchgeführt, sowohl nach von ihm ausgebrachten Messstangen als auch zu natürlichen Zielen, z. B. Eiszacken in Frontnähe. Dabei wurden durch trigonometrische Beobachtungen (mit Theodolit) entweder von bekannten Punkten auf Fels aus Winkel gemessen (Vorwärtseinschnitt) oder von den Punkten auf dem Eis Punkte auf Fels angezielt (Rückwärtseinschnitt). Diesen Messungen widmet er im Ergebnisband insgesamt über 100 Seiten (von Drygalski et al.1897a, S. 170ff). Dabei beschreibt er neben den Messmethoden auch sehr ausführlich die Auswertung der Messungen. Die von ihm ermittelten Geschwindigkeiten zeichnen sich durch eine hohe Genauigkeit aus. Übrigens: Die gesamte Dokumentation der Messungen und Ergebnisse entspricht in vorbildlicher Weise dem, was heute unter „FAIR data“ (siehe z.B. https://forschungsdaten.info/themen/veroeffentlichen-und-archivieren/faire-daten/, letzter Zugriff: 19. November 2023) angestrebt wird!

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Abb. 17Aus optischen Aufnahmen der Landsat-Satelliten (USGS2023) bestimmtes Geschwindigkeitsfeld des Großen Karajak-Gletschers. Messpunkte von Drygalski sind mit ihren Geschwindigkeiten in gleicher Farbkodierung dargestellt. [The velocity field of the glacier “Großer Karajak-Gletscher” inferred by the analysis of Landsat imagery (USGS2023) The measuring points of Drygalski with their velocities are shown by the same colour code.]

https://polf.copernicus.org/articles/92/1/2024/polf-92-1-2024-f18

Abb. 18Vergleich der von Drygalski an 46 Messpunkten bestimmten Geschwindigkeiten mit den aus den Landsat-Daten abgeleiteten Geschwindigkeiten. Die Landsat-Geschwindigkeiten sind die Medianwerte für den Zeitraum 1999–2015. Die blaue Diagonale verdeutlicht die 1:1-Linie bezüglich beider Geschwindigkeitssätze. [Comparison of the ice-flow velocities at 46 measuring points as determined by Drygalski with the velocities obtained from the Landsat imagery. The Landsat velocities are given as median values for the time span 1999–2015. The blue diagonal line illustrates the 1:1 line with regard to both speed sets.]

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https://polf.copernicus.org/articles/92/1/2024/polf-92-1-2024-f19

Abb. 19Im Außenbereich des Museums von Uummannaq wird der Expedition von Alfred Wegener 1930/31 gedacht. Links oben im Bild die Gedenktafel (Foto: Reinhard Dietrich). [Part of the outdoor area of the museum of Uummannaq is dedicated to the expedition of Alfred Wegener 1930/31. In the upper left one can see the commemorative plaque (photo: Reinhard Dietrich).]

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Durch Forschungsarbeiten am Institut für Planetare Geodäsie der TU Dresden wurden vor einigen Jahren Verfahren entwickelt, um aus optischen Satellitenaufnahmen Gletscherfließgeschwindigkeiten zu bestimmen. Schließlich wurden für insgesamt 302 grönländische Gletscher Geschwindigkeitsfelder bestimmt (Rosenau2014; Rosenau et al.2015). Damit ergab sich die einmalige Gelegenheit, am Großen Karajak-Gletscher Fließgeschwindigkeiten über etwa 120 Jahre miteinander zu vergleichen (Abb. 17). Man kann feststellen, dass die Fließgeschwindigkeiten (im Gegensatz zu vielen anderen Gletschern in Grönland) nicht zugenommen haben, im Mittel ist eine leichte Abnahme der Geschwindigkeit festzustellen (Abb. 18). Damit ist der große Karajak-Gletscher also sowohl was die Lage der Gletscherfront, als auch was die Fließgeschwindigkeit anbelangt, als stabil anzusehen. Bereits Fritz Loewe hatte übrigens 1929 eine stationäre Gletscherfront (im Vergleich zu Drygalskis Karte) festgestellt (Lüdecke1992). Damit steht der Große Karajak-Gletscher im Gegensatz zu mehreren bedeutenden grönländischen Gletschern, die in jüngster Zeit einen deutlichen Rückgang der Gletscherfront und eine Zunahme der Fließgeschwindigkeiten verzeichnen. Als beeindruckendes Beispiel hierfür mag der Jacobshavn Isbræ dienen. Hier hat neben dem Zerfall einer schwimmenden Gletscherzunge vor allem eine sich gletscheraufwärts senkende Subglazialtopographie beigetragen (siehe z.B. Dietrich et al.2007; Rosenau et al.2013).

6 Fazit

Erich von Drygalski hat am Großen Karajak-Gletscher umfangreiche, bahnbrechende Forschungen durchgeführt, die auch aus heutiger Sicht noch außerordentlich wertvoll sind. Er war ein Pionier der deutschen Grönlandforschung, der schon damals mit den Grönländern vor Ort eng und gut zusammengearbeitet und gelebt hat. Nach Drygalski wurde eine Halbinsel nordwestlich des Großen Karajak-Gletschers benannt (siehe Abb. 1). Fast 40 Jahre später hat auch Alfred Wegener von Uummannaq aus seine berühmten Expeditionen durchgeführt. An Alfred Wegener erinnert im Außenbereich des Museums von Uummannaq ein Ausstellungsteil mit einer Gedenktafel (Abb. 19). Auf ihr steht:

Deutsche Grönland-Expedition 1930/31 Alfred Wegener

Den Teilnehmern und grönländischen Kameraden gewidmet

Bundesrepublik Deutschland 1984

Es wäre sicher mehr als angemessen, wenn man auch Erich von Drygalski und seiner Mitstreiter in ähnlicher Weise gedenken würde. Die deutsche Polarforscher-Gemeinde sollte es in Betracht ziehen.

Datenverfügbarkeit

Die LANDSAT-Aufnahmen stammen von der LANDSAT-Homepage (USGS2023). Die Fließgeschwindigkeitsfelder, die aus den LANDSAT-Daten abgeleitet wurden, sind frei verfügbar unter https://data1.geo.tu-dresden.de/flow_velocity/index.shtml (Rosenau et al., 2018).

Autor:innenmitwirkung

RD konzipierte den Artikel und verfasste den ersten Entwurf. CK und MS trugen wesentlich zu seiner Endfassung bei. Von RR stammen die Vergleichsuntersuchungen mit Satellitendaten (Abschnitt 5).

Interessenkonflikt

Die Autor:innen erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Haftungsausschluss

Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten und institutionellen Zugehörigkeiten neutral.

Danksagung

Die Autoren sind Herrn Heinz Peter Brogiato (Leiter des Archivs für Geographie am Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig) für die freundliche Abdruckgenehmigung der Abb. 9, 11 und 12 zu Dank verpflichtet, Frau Cornelia Lüdecke stellte hierfür die Scans zur Verfügung. Ihr danken wir auch für ihre Motivation zur Abfassung dieser Veröffentlichung.

Herrn Diedrich Fritzsche danken wir für seine gründliche Begutachtung des Beitrags. Seine Anmerkungen und die Kommentare von Frau Anja Wendt als zuständige Editorin haben zur Verbesserung des Manuskripts wesentlich beigetragen.

Begutachtung

Dieser Artikel wurde von Anja Wendt redaktionell betreut und durch Diedrich Fritzsche begutachtet.

Literatur

Dietrich, R., Maas, H.-G., Bäßler, M., Rülke, A., Richter, A., Schwalbe, E., and Westfeld, P.: Jakobshavn Isbrae, West Greenland: Flow velocities and tidal interaction of the front area from 2004 field observations, J. Geophys. Res., 112, F03S21, https://doi.org/10.1029/2006JF000601, 2007. a

Helmert, F.: Jahresbericht des Direktors des Königlichen Geodätischen Instituts für die Zeit von April 1888 bis April 1889, 1889. a

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Helmert, F.: Jahresbericht des Direktors des Königlichen Geodätischen Instituts für die Zeit von April 1890 bis April 1891, 1891.  a, b

Kick, W.: Das Eis der Erde und die Geodäsie, Zeitschrift für Vermessungswesen ZfV, 11, 476–487, 1971. a

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Lüdecke, C.: Verborgene Eiswelten Erich von Drygalskis Bericht über seine Grönlandexpeditionen 1891, 1892–1893, August Dreesbach Verlag, München, ISBN 978-3-944334-38-7, 2015. a, b, c

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Rosenau, R. Scheinert, M., and Ebermann, B.: Velocity fields of Greenland outlet glaciers, https://data1.geo.tu-dresden.de/flow_velocity/index.shtml (last access: 19 November 2023), 2018. 

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Short summary
Drygalski führte in den Jahren 1891 und 1892/93 Forschungsarbeiten in Westgrönland durch, wobei zur Überwinterung eine Forschungsstation am Großen Karajak-Gletscher errichtetet wurde. An gleicher Stelle erfolgten durch die TU Dresden 2007 und 2019 geodätische Feldarbeiten. Im Beitrag werden das Areal der damaligen Station sowie die Forschungsarbeiten Drygalskis vorgestellt. Ein Vergleich mit heutigen Messungen zeigt, dass sich der Große Karajak-Gletscher in 120 Jahren kaum verändert hat.