Articles | Volume 91
https://doi.org/10.5194/polf-91-15-2023
https://doi.org/10.5194/polf-91-15-2023
Review on polar literature
 | 
03 Mar 2023
Review on polar literature |  | 03 Mar 2023

Buchrezension: Weil ich ein Inuk bin: Johann August Miertsching: Ein Lebensbild

Cornelia Lüdecke

Opel, M. and Opel, W.: Weil ich ein Inuk bin: Johann August Miertsching: Ein Lebensbild, Verlag Lukas, Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte, Berlin, 471 ff., ISBN 978-3-86732-411-3, EUR 34,90, 2022.

Im Zuge des Klimawandels zieht sich im Sommer das Meereis der Arktis immer mehr zurück und die Nordostpassage entlang der russischen Nordküste entwickelt sich allmählich zur begehrten Transportroute zwischen Asien und Europa. Die Nordwestpassage ist hingegen viel schwieriger zu befahren, da die Inselwelt im Nordosten Kanadas weiterhin oft von Eis blockiert ist. Beide Passagen waren seit dem 16. Jahrhundert Ziel von Entdeckungsreisen, um die weiten Wege über Kap Horn und das Kap der Guten Hoffnung abzukürzen. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war es aber noch niemanden gelungen, eine westliche oder östliche Passage durch die arktischen Gewässer zu finden.

Informiert man sich bei Wikipedia über die Entdeckungsgeschichte der Nordwestpassage, stößt man auf John Franklins Expedition, die seit ihrem Aufbruch im Jahr 1845 verschollen war, und auf die mehrjährige Suchexpedition von Robert McClure, dessen Schiff „HMS Investigator“ ebenso unterging. Die Mannschaft wurde jedoch nach vier Überwinterungen und einigen Todesfällen von einem Schiff aus östlicher Richtung gerettet. McClure konnte somit den theoretischen Weg durch die Nordwestpassage zeigen, den er durch den Verlust seines Schiffes aber nicht selbst befahren hatte. Als einen der wenigen Expeditionsteilnehmer erwähnt der Wikipedia-Artikel den Sorben Johann August Miertsching (1817–1875) namentlich. Er war ein gelernter Schuhmacher, der die Suchexpedition als Dolmetscher für Inuit-Sprachen begleitete. Ihm ist sogar ein eigener Eintrag in Wikipedia gewidmet. Als Missionar der Herrnhuter Brüdergemeine hat er fünf Jahre lang in der Missionssiedlung Okak in Labrador Lesen und Schreiben unterrichtet und dort die Sprache der Einheimischen gelernt. Die aller wichtigsten Ereignisse seines Lebens werden kurz erwähnt. Nach Okak folgte die Teilnahme an der mehrjährigen Franklinsucherexpedition, dann ein zwölfjähriger Missionsaufenthalt in Südafrika und die Rückkehr in die Heimat nach Kleinwelka, wo er schließlich starb.

Auch das Autorenehepaar Mechthild und Wolfgang Opel stieß durch die Beschäftigung mit der Suche nach der Nordwestpassage auf August Miertsching, dessen Urenkel bei einer TV-Serie über die Entdeckungsgeschichte der Nordwestpassage mitgewirkt hatte. So begann vor 25 Jahren ihre umfassende Recherche über diesen vergessenen Oberlausitzer Missionar in deutschen, englischen, kanadischen, amerikanischen und südafrikanischen Archiven. Dazu kam die Besichtigung aller von Miertsching besuchten Orte, was bei der Nordwestpassage allerdings nur im Ostteil geklappt hat. Das Ergebnis ist eine umfangreiche Biographie, die als das Standardwerk über Miertsching bezeichnet werden kann. Der besseren Lesbarkeit halber hat das Autorenpaar auf den vermutlich sehr umfangreichen Fußnotenapparat verzichtet und nur die allerwichtigsten Zitate angegeben. Dies werden jedoch nur Historiker vermissen.

Davon abgesehen, haben wir ein fantastisches Buch vor uns, das sich hervorragend liest. Immer wieder werden eigene Erlebnisse und Empfindungen der Autoren sowie aktuelle Bezüge eingeflochten. Miertschings Beschreibung von der Nordwestpassage, die aus mehreren Quellen zusammengesetzt wurde, ist richtig spannend. Eine farbige Karte der Reiseroute ergänzt die Darstellung. Anhand von Miertschings Leben erfährt der Leser zudem auch sehr viel über die Lebensweise und das strenge Regelwerk der Herrnhuter Brüdergemeine und das in Bezug auf eine Person, die der Minderheit der Sorben angehörte und sozusagen als Quereinsteiger Missionar wurde. Dadurch wird das im politischen Zusammenhang mit Kriegen und Revolutionen aufgezeigte Spannungsfeld umso interessanter. Die Darstellung von Miertschings Lebensverhältnissen von seiner Kindheit bis zu seinem Tod erscheint sehr plausibel und wird teilweise durch Illustrationen unterlegt.

Immer wieder klingt im Buch Miertschings Kritik durch, wenn beispielsweise Kinder der Herrnhuter Missionare im Schulalter von ihren Eltern getrennt wurden und ihre Heimat in Grönland, Labrador oder Südafrika verlassen mussten. In Obhut von anderen, oft sogar fremden Missionaren reisten sie nach Herrnhut in ein völlig fremdes Land, um dort in einem Internat mit großem Schlafsaal zu leben und völlig ohne elterliche Liebe wie „Waisenkinder auf Zeit“ (S. 444) die Schulzeit zu verbringen.

Der Missionsauftrag der Herrnhuter bestand darin, den Einheimischen das Evangelium näherzubringen, ohne dabei die vorhandene Kultur zu zerstören oder die jeweils gesprochene Sprache zurückzudrängen. Deshalb wurden Gesangsbücher und Bibeln in der Sprache der lokalen Bevölkerung herausgegeben, was eine sehr erfolgreiche Alphabetisierung in der Landessprache nach sich zog. Für Miertsching bedeute dies, dass er zunächst Inuktitut lernen musste, bevor er in der neugegründeten Mission Okak an der kanadischen Ostküste seine erste Predigt vor den Inuit halten konnte. Auch seine Schuhmacherlehre war von Nutzen. Nach einer fünfjährigen Missionarszeit kehrte er wieder nach Herrnhut zurück.

Bei seinem Aufenthalt in Labrador hatte er sich sehr viel von den Inuit abgeschaut, was die ans Klima angepasste Kleidung, den Bau von Iglus, die Jagd und die Ernährung von Robben und Karibus anging. Dieses Erfahrungswissen sollte ihm schon ein Jahr später von großem Nutzen werden, denn er wurde von den Herrnhutern als Übersetzer für Inuitsprachen für die britische Franklinsucherexpedition unter der Leitung von Robert McClure auf die HMS Investigator vermittelt, die 1850 vom Westen her in die Arktis segelte.

Der Fund von Miertschings rekonstruiertem Tagebuch (das Original ist seinerzeit mit der HMS Investigator untergegangen) und sein Vergleich mit dem gedruckten Reisebericht machte das Autorenpaar stutzig. Viele kritisierende Textstellen wurden von den Herrnhutern vor der Drucklegung gestrichen oder abgemildert. Zusätzliche Tagebücher anderer Expeditionsteilnehmer ergänzen die Darstellung, so dass man im vorliegenden Buch erstmals eine nahezu vollständige Wiedergabe der Ereignisse während der Entdeckung der Nordwestpassage auf der HMS Investigator in den Händen hält. Gelegentlich wird auf andere gleichzeitige Suchexpeditionen hingewiesen und die Autoren deuten damals mögliche Wendungen an nach dem Motto: was wäre gewesen, wenn sich Männer von McClures und Leopold McClintocks Schiffen schon zwei Jahre früher getroffen hätten, oder John Raes Expedition auf McClure gestoßen wäre, oder Nachrichten in einem Steinmann entdeckt worden wären. Eine Landkarte mit den heutigen im Buch erwähnten Ortsnamen wäre in diesem Zusammenhang sehr hilfreich.

Nicht nur Miertschings Tätigkeit als Übersetzer war äußerst verdienstvoll, sondern auch seine detaillierte Beschreibung der unterwegs angetroffenen Inuitgruppen war einzigartig. Sie wurde eine wichtige Grundlage für Knut Rasmussens eigenen Arktisexpeditionen. Auch wendete Miertsching seine Erfahrungen selber an, indem er beispielsweise Stiefel nach Inuitart fertigte. Auch sonst machte er sich nützlich und nähte Pelzjacken oder produzierte Blechkanister für die geplanten Schlittenreisen zur Suche nach einem Ausweg, weil sich die HMS Investigator im Eis nicht vom Fleck rührte. Nicht nur Franklin hatte ein Problem mit verdorbenen Konserven, sondern auch McClures Expedition.

Nachdem sich herausstellte, dass Miertsching ein guter Schütze war, konnte er zeitweise Frischfleisch von Karibus zur Skorbutbekämpfung beschaffen. Auch hatte er die Idee, Löffelkraut (eine Art Sauerampfer) zu sammeln und als Salat zu essen, was ebenfalls gegen Skorbut half.

Je länger sie im Eis festgehalten wurden, desto mehr verzweifelte Miertsching, aber sein unverwüstliches Gottvertrauen und sein Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten halfen ihm immer wieder, die Ausweglosigkeit der Winternacht zu überstehen. Die viereinhalb Jahre in der Arktis verbrachte Zeit prägte ihn lebenslang. Wie schon gesagt, zieht es einen richtig in den Bann, die Erlebnisse mit zu verfolgen, wenn die zur Rettung ausgesandten Schiffe ebenfalls vom Eis festgesetzt wurden und immer mehr Mannschaften sich auf immer kleinerem Raum zur nächsten Überwinterung bzw. schließlich zur Heimreise einrichten mussten. McClures MHS Investigator hatte durch die Umrundung von Kap Horn und die theoretische Befahrung der Nordwestpassage gezeigt, dass Nord-und Südamerika zusammen eine Insel sind (S. 335). Zudem hatten die Erkundungsreisen mit Schlitten ergeben, dass es noch eine zweite nördlichere Route von West nach Ost durch die kanadische Inselwelt gab.

Nebenbei kann man im Buch interessante Nebensächlichkeiten entdecken. Zum Beispiel wird erwähnt, dass 1853 zwischen McClures und McClintocks Schiffen „ein elektromagnetischer Telegraph eingerichtet“ wurde (S. 312). Ursprünglich war die Morseverbindung dafür gedacht, in der Winternacht den Weg zwischen beiden Schiffen zu sichern, damit sich keiner mehr verlief. Diese „Schnellpost“ wurde aber auch zum Schachspiel mit Gegnern auf zwei Schiffen verwendet. Bemerkenswert ist auch die zufällige Mitwirkung von Ernst Sorge, dem Teilnehmer von Alfred Wegeners Grönlandexpedition (1931–1932), an der Überlieferung von Miertschings Manuskripten und zwei Daguerreotypien mit der Abbildung seiner Familie (S. 428).

Nach seiner Rückkehr wird Miertschings weiterer Lebenslauf in Deutschland leider geprägt von der Missgunst anderer Herrnhuter Missionare, während seine persönlichen Vorträge über arktische Erlebnisse sogar bei Einladungen in höchste deutsche Herrschaftskreise sehr geschätzt wurden.

Allmählich erholte sich Miertsching von den arktischen Strapazen und heiratete. Dann ging das Paar auf eine Missionsstation nach Südafrika, wo er nun einen Laden gewinnbringend führen sollte. Dieser neue Lebensabschnitt brachte ihm nicht nur viel Arbeit, viel Freude mit seiner Familie, sondern auch viel Leid. Von ihren sechs Kindern starben vier noch vor der Rückreise nach Deutschland und sechs Monate nach ihrer Rückkehr ebenfalls auch seine Frau. Der letzte Zeitabschnitt beschreibt sehr einfühlsam Miertschings weitere bescheidene Lebensumstände sowie seine allgemeine Wirkungsgeschichte.

Dieses Buch ist wirklich sehr zu empfehlen. Es enthält nicht nur einzigartige Einblicke in die Entdeckung der Nordwestpassage, sondern auch in die Geisteswelt der Herrnhuter. Will man jedoch einzelne Stellen im Text wiederfinden, tut man sich etwas schwer, denn das Inhaltsverzeichnis führt nur die wenigen Kapitelüberschriften auf und das Personenverzeichnis nur die wichtigsten Akteure. Ein Ortsverzeichnis und mehr Jahresangaben im Text wären auch hilfreich. Wer sich also intensiv mit Miertsching beschäftigen möchte, sollte sich deshalb schon beim Lesen Notizen machen. Davon abgesehen runden ein mehrseitiges Glossar und eine Zeittafel mit den wichtigsten Stationen in Miertchings Leben das Buch ab. Insgesamt bietet die Biographie eine sehr interessante und packende Lektüre, die man nicht mehr so schnell aus der Hand legen mag.

Haftungsausschluss

Anmerkung des Verlags: Copernicus Publications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffentlichten Karten und institutionellen Zugehörigkeiten neutral.